Barre des Écrins, 4102m, 01.08.-02.08.2023, 3. Versuch
Bereits Ende Juni erfahren wir, dass die geplante Tour auf die Konkordiahütte und das Großgrünhorn Anfang August zusammen mit Thomas nicht stattfinden kann. Weil es ein Herzenswunsch von Thomas ist, einmal den Konkordiaplatz zu sehen, an dem mit dem Großen Aletschgfirn, dem Jungfraufirn und dem Ewigschneefeld drei große Gletscher an einer riesigen Kreuzung zusammenkommen und als Großer Aletschgletscher gen Tal strömen, wollen wir das nicht ohne ihn unternehmen. Wir stornieren die Plätze auf der Konkordiahütte und haben plötzlich eine ganze Woche unverplante Urlaubszeit, die gefüllt werden möchte. Ein Zeitfenster, das wie geschaffen dazu ist, den Barre des Écrins erneut zu versuchen. Hinzu kommt, dass das Wochenende mit meinen Kindern Ende Juli nicht stattfindet und wir nicht ins Saarland müssen. Wir buchen zwei Plätze auf der Écrins-Hütte für eine Nacht. Auf keinen Fall möchte ich dort mehr Zeit verbringen als unbedingt nötig, denn die letzten beiden Male, die wir dort gewesen sind, hinterließen die Gewissheit, dass diese Unterkunft eine der schlimmsten Berghütten in den Alpen ist. Hütte immer voll, Essen so miserabel, dass frau es sich kaum vorstellen kann, Stehplumpsklos draußen, 2 für gefühlt 100 Menschen, ein Hüttenzustieg vom Glacier Blanc hoch, auf dem frau sich auch gut das Genick brechen könnte und nicht zuletzt sind wir als Deutsche vom Personal immer wie Menschen zweiter Klasse behandelt worden. Aber für den Berg reißen wir uns ein letztes Mal für einen Abend und eine Nacht zusammen. Wird schon gehen. Um uns das Leben mit der elend langen Anfahrt etwas angenehmer zu gestalten, buchen wir für die Nacht am Anreisetag auch gleich ein Zimmerchen in einer Auberge im Tal.
Bevor es soweit ist, gibt es ein paar Rückschläge zu verdauen, nachdem es am Piz Bernina mit Bergführer so gut geklappt hat. Am Ostgrat der Watzespitze von der Kaunergrathütte aus läuft’s nicht, am Zinalrothorn läuft’s nicht und dann grätscht ein weiteres Ereignis rein, dass alle Pläne droht zu kippen. Astrid verbringt zwangsweise das freie Wochenende bei ihrer pflegebedürftigen Mama, weil der Papa unerwartet ins Krankenhaus musste. Bereits davor wurden wir wankelmütig, ob es überhaupt Sinn hat, in die Dauphiné zu fahren, denn das Wetter ist als sehr labil mit starkem Wind vorhergesagt. Wir stornieren zunächst die Übernachtung in der Auberge Saint Antoine solange das noch kostenfrei geht, um zu vermeiden, dass wir sie zahlen müssen, auch wenn wir nicht hinfahren und beobachten die Wetterprognose weiter. Es wird sich im Zweifel eine andere Unterkunft finden. Die Stornokosten auf der Écrins-Hütte sind so gering, dass wir die in Kauf nehmen. Keinen Platz mehr zu bekommen wäre das größere Übel. Eine Woche vor unserem geplanten Gipfeltag ruft Astrid in der Hütte an, um sich nach den Bedingungen zu erkundigen, denn letztendlich haben diese einen erheblichen Anteil daran, ob es Sinn hat, bis da runter zu tuckern. Auf der Hütte ist man äußerst kurz angebunden. Astrid erntet ein „bon“ als vollständige Aussage über die Verhältnisse auf dem Normalweg. Nach den Erfahrungen der letzten Male erwartete ich auch ehrlich gesagt nichts anderes.
2014, in dem Jahr als wir unsere kleine Holzhütte bauten, sind wir das erste Mal etwas blauäugig auf die Idee gekommen, diesen südwestlichsten der 4000er der Alpen zu versuchen. Die auf dem Papier genannten Schwierigkeiten sollten eigentlich kein Problem darstellen, dachten wir, gleichzeitig hatten wir wegen des Hausbaus und mangelnder Disziplin praktisch keinen Trainingszustand und akklimatisiert sind wir selbstredend auch nicht gewesen. Immerhin bis auf den kleinen Vorgipfel, den Dôme de Neige auf 4015m sind wir gekommen, doch dass wir von dort aus über die Brèche Lory in den Westgrat zum Hauptgipfel einsteigen, schied bei kurzer Betrachtung sofort aus. Zu exponiert, zu wenig Erfahrung generell und wenig bis keine Idee davon, wie das mit der Absicherung funktionieren soll, ließen wir es an der Stelle gut sein und stiegen wieder ab. Und weil wir beide keine Lust mehr auf die schreckliche Hütte hatten, stiegen wir das erste Mal überhaupt vom Gipfel auf 4015m in einem Rutsch bis zum Auto am Réfuge Cezanne auf etwa 1870m ab. Also rund 2200m Höhenmeter, womit wir dann auch wussten, dass wir das ebenfalls aushalten, auch wenn die folgenden Tage mit nahezu Lähmungserscheinungen im Zelt in Ailefroide endeten. 2018 dachten wir, sind wir schlauer. Um zu erlernen, wie solche Grate, wie zum Beispiel der Westgrat des Barre des Écrins zu machen sind, buchten wir im Vorfeld zwei Tage Ausbildung mit Bergführer Jürgen. Denn in der Zwischenzeit hatten wir ein paar weitere Male genau das gleiche Problem, zum Beispiel am Finsteraarhorn. Die Ausbildung hat uns ein gutes Stück vorangebracht und vor allem zuversichtlicher und selbstsicherer werden lassen, denn gleich darauf wandten wir das Erlernte am Grat des Mittleren Ramolkogels an, an dem wir einige Jahre vorher auch schon mal umgedreht sind, was ganz gut funktionierte. Was wir zu der Zeit leider völlig haben sterben lassen, war das Ausdauertraining, denn neben der mangelnden Disziplin für sowas erforderte es die berufliche Situation, dass wir täglich mehrere Stunden mit Pendeln nach München beschäftigt waren, was unsere ganze Zeit fraß. Trotzdem wagten wir einen zweiten Versuch am Barre des Écrins, bei dem wir tatsächlich auch in die Kletterei am Grat eingestiegen sind, uns aber die Zeit etwas aus dem Ruder lief. Zum einen, weil wir zu lange gebraucht haben, um überhaupt bis zum Einstieg an der Brèche Lory zu kommen und zum andern, weil wir uns wegen der Exponiertheit nicht getraut hatten, am laufenden Seil zu gehen, sondern stattdessen von Stand zu Stand sicherten, was natürlich um ein Vielfaches länger dauert. Und zu spät an der Hütte los sind wir mit fast 5 Uhr morgens obendrauf auch noch. Zeit ist ein wichtiges Kriterium an diesem Berg, denn der Normalweg verläuft sehr nahe an bzw. in der Falllinie einer Serac-Zone aus der täglich was rausbricht und auf den Gletscher donnert. Die Faustregel lautet: Sei bis um 12 Uhr unter dieser Zone raus auf dem Rückweg über den flachen Glacier Blanc. Wegen dieser Regel setzten wir uns 10 Uhr als Zeitmarke fürs Umdrehen, denn sonst würden wir es sicher nicht schaffen, bis Mittag unten durch zu sein. Mit dem Erreichen der Zeitmarke hatten wir noch nicht mal den halben Grat geschafft und dann trat zeitgleich zusätzlich das Ereignis ein, dass ein Bergsteiger/eine Bergsteigerin per Hubschrauber aus dem vor uns liegenden Gratstück heraus evakuiert werden musste. Wir wissen nicht, wie es dazu kam, doch das ist auch nicht wichtig. Bloß wenn du da am Grat rumeierst mit mehr Angst als Vaterlandsliebe, die Zeit schon gerissen ist und dann auch noch der Hubschrauber zum Anfassen nah an dir vorbeifliegt und von dir wissen will, ob alles gut ist, dann ist die Motivation, es weiter zu versuchen, komplett am Boden. Das Ende vom Lied: Wir drehen um und hauen ein Ei über den Barre des Écrins, sprich, wir beschließen, weitere Versuche an diesem Berg zu lassen.
Aber jetzt ist dieses Zeitfenster mitten im Urlaub da, wir haben ein paar Mal, zum Beispiel beim zweiten Versuch am Finsteraarhorn, bewiesen, dass wir diese Schwierigkeiten gehen können und außerdem haben Knieverletzungen bei uns beiden und die Pandemie uns regelmäßiges Training zurückgebracht, weswegen wir deutlich fitter sind als bei den ersten beiden Versuchen. Und wegen der vielen Bergtouren in den Wochen davor, bei denen wir fast immer über 4000m gekommen sind und auch in der Höhe übernachteten, sind wir ganz gut akklimatisiert. Besser geht’s für unsere Verhältnisse nicht. Außer für meine Füße. Die haben am Zinalrothorn krass gelitten. So viele Blasen hatte ich lange nicht. An jedem Fuß mindestens 2-3 und ganz besonders blöd die an den großen Zehen. Ich creme fleißig, um die Haut geschmeidig zu halten, wir überlegen uns außerdem, dass die etwas weicheren C-Bergstiefel mit halbautomatischen Steigeisen genügen und dass wir mit Zustiegs- bzw. Trailrunningschuhen bis zur Glacier-Blanc-Hütte aufsteigen, die Schuhe dann dort lassen, mit Bergstiefeln weitergehen und auf dem Abstieg wieder die Schuhe wechseln wollen. Das wird den Füßen gefallen, denn wir planen erneut nur eine Nacht auf der Hütte, was einen langen Abstieg als Konsequenz hat.
Nur das Wetter ist nach wie vor sehr durchwachsen vorhergesagt, für unseren geplanten Gipfeltag soll es jedoch bis nach Mittag mehr sonnig als wolkig sein und auch der Wind soll sich mit 30-35km/h in Grenzen halten. Sonntags, als Astrid noch bei ihrer Mama ist, entscheiden wir, wir tun’s. So ein Fenster kommt so schnell nicht wieder vorbei. Für mich das Signal, alles zu packen, was wir brauchen, die Gleitschirme gehen auch mal mit, und als Astrid in der Nacht zum Montag nach Hause kommt, gehen wir die Packliste nochmal durch, ändern noch ein paar Kleinigkeiten, beladen das Auto soweit, wie möglich, die Übernachtung in der Auberge Saint Antione in der Gemeinde Vallouise-Pelvoux ist auch wieder gebucht, und am nächsten Morgen geht’s los. 700km durch 4 Länder warten auf uns mit langen Etappen über diverse Pässe. Wir kommen überraschend gut durch, insbesondere am St. Bernard, denn es ist schon einiges an Urlaubsverkehr unterwegs, aber dahinter verläuft es sich ein wenig. Als wir in der Nähe von Mailand nach Turin abbiegen, sind wir sogar fast alleine auf der Autobahn. Bloß die alle paar Kilometer aufgestellten Mautstellen, von denen die Italiener, wie auch die Franzosen, nicht wegkommen, sind echt nervig. Gefühlt 36 Mal 1,50€ mit mehreren Minuten Stillstand, weil die Autobahnabschnitte immer wieder anderen Gesellschaften gehören und jede für sich Kasse macht. Das ist echt Mittelalter. Lediglich die rund 100km zwischen Mailand und Turin können wir ohne Zwangsstopp fahren, was für uns aber nur ein Katzensprung ist. Wenigstens geht’s meistens kontaktlos mit Karte, wenn frau kein Telepass-Gerät hat und nicht wie früher das ganze Kleingeld im Auto zusammengesucht werden muss.
Im Skigebiet Montgenèvre passieren wir die letzte Grenze für heute zwischen Italien und Frankreich und mir wird wieder bewusst, was Menschen der Natur antun, nur damit im Winter alle Spaß auf den Ski haben. Besonders die Bausünden aus Beton, die hier in den Anfängen des Skitourismus entstanden sind, lassen mir fast eine Gänsehaut wachsen. Und als ob das nicht schon genug wäre, wird fleißig weiter gebaut. Schon Wahnsinn irgendwie.
Als wir uns durch Briançon stauen, weiß ich, dass wir bald da sind. Die Gegend kenne ich noch ein bisschen von früher, als ich mit dem Wildwasser-Kayak 2-3 Mal da gewesen bin. Die Auberge finden wir schnell, denn sie liegt an der Hauptstraße, nur die Parkplätze von denen bei der Buchung die Rede war, gibt es nicht. Zumindest nicht direkt am Hotel. Etwas unterhalb am Flüsschen Gyronde steht ein öffentlicher, aber kostenloser Parkplatz zur Verfügung, von dem aus wir ein paar Minuten mit unserem Zeug tappen müssen. Mein Quatschi im Kopf ist genervt, weil schon wieder was verkauft wurde, was es gar nicht gibt und mit dieser Voraussetzung habe ich gute Chancen, alle Haare in der Suppe zu finden. Schwer beladen entern wir die Rezeption. Ein winziger Tresen mit einem Männlein dahinter. Astrid redet ihn auf Französisch an, erklärt, wer sie ist und ob wir in Englisch weitermachen können. Erstaunlicherweise stimmt der Herr zu, was mich ehrlich gesagt in Frankreich überrascht, denn die bisherige Erfahrung ist die, dass du gefälligst Französisch reden musst, wenn dir geholfen werden soll. Aber er ist total nett. Ich merke, dass meine Hemmschwelle, Französisch zu reden, sehr hoch liegt. Mein Wortschatz ist winzig, irgendwelche Grammatikkenntnisse praktisch nicht mehr vorhanden. Und das, obwohl ich, abgesehen von meiner Französischen Verwandtschaft, mit der ich nie wirklich Französisch reden musste, gut 8 Jahre lang in diversen Schulen Französisch als Unterrichtsfach hatte. Dass ich es so gut wie immer versuche zu vermeiden, liegt meiner Meinung unter anderem daran, dass das, was in der Schule gelehrt wird, wenig bis nichts mit praktisch anwendbarer Sprache zu tun hat. Das traf im Übrigen auch auf meine Englischkenntnisse zu, bis ich mich selbst darum kümmerte, es besser zu sprechen. Mal schauen, wie es weitergeht in der Auberge. Ich nehme mir vor, nicht immer sofort die leichte Ausfahrt Englisch zu nehmen. Es ist etwa 18 Uhr, wir sind mit Pausen rund 9 Stunden gefahren, mein Magen knurrt, es gibt ein angeschlossenes Restaurant und als wir unser Zimmerchen bezogen hatten, war es irgendwie naheliegend, gleich zum Essenfassen wieder runter zu wackeln. Eine staubsaugende Angestellte war im Lokal zu Gange, doch bei ihr stoßen wir auf das Exemplar pure french. Sie hilft uns nicht weiter. Erst als wir den Chef von vorhin antreffen, klärt er uns auf, dass das Restaurant ab 19 Uhr offen hat. Wir müssen uns ein wenig in Geduld üben, also nochmal rauf ins Zimmer, Zeit totschlagen. Zwei alkoholfreie Biere befinden sich noch im Gepäck, die den Tag halbwegs kalt überstanden haben und mit denen wir uns auf unseren kleinen Balkon setzen. Das Zimmer ist zwar etwas geflickschustert, aber das Bett macht einen guten Eindruck. Hört sich doof an, aber mir wird so etwas immer wichtiger, denn meine Nächte sind eh schon von schwankender Schlaflosigkeit geprägt, da mag ich wenigstens gut wach liegen. Das Highlight ist die elektrische Toilette. Also nicht die Toilette selbst ist elektrisch, sondern der Auslöser für die Spülung, der sich seitlich am Porzellanrand befindet. Hab‘ ich auch noch nicht gesehen und ich habe auch ein bisschen gebraucht, bis ich verstanden hatte, wie das geht. Alles, was Frau anfasst, wirkt irgendwie alt und/oder zerbrechlich, von den Türen bis zum Badregal, dass tatsächlich auf dem letzten Schnappen an zwei Kunststoffdübeln hängt, wobei „Regal“ etwas übertrieben ist. Es ist nur Platz darauf für eine Fernbedienung, mit der die Lampe in dem winzigen Wasch-/Duschräumchen drahtlos geschaltet werden kann, wenn Frau geschnallt hat, wozu das Ding da ist, und das übliche Seifenschälchen. Gleichzeitig ist es modern gestaltet, das Bad, mit seinen etwa 0,02 Quadratmetern und irgendwie süß. Händewaschen mit zwei Händen gleichzeitig ist bereits eine kleine Herausforderung. Das angepriesene kostenfreie WLAN gibt es übrigens auch erstmal nicht. Quatschi meldet sich wieder. Doch da wir in Frankreich und nicht in der Schweiz sind, ist mir das eher wumpe. Für den Wetterbericht brauche ich es nicht und das ist bis auf die Übersetzer-App das Einzige, was mir wichtig ist. Und Astrid bekommt neuerdings jeden Monat gigantische Datenvolumen von der Telekom geschenkt, warum auch immer, weswegen uns das nicht weiter anhebt. Anheben tut mich eigentlich nur der Hunger. 19 Uhr.
Ich bin gespannt, was es geben wird. Die berühmte französische Küche ist ja normalerweise eher etwas für gut betuchte Menschen mit wenig Hunger und ich muss gestehen, dass ich in Restaurants mit Preisen für Normalsterbliche noch nie gute Erfahrungen gemacht habe, bis hin zur Ungenießbarkeit. Deswegen habe ich beim Essengehen in Frankreich meist gemischte Gefühle. Doch hier ist das anders. Die Karte ist klein. Die Zutaten kommen aus der Gegend. Die Preise sind moderat. Der erste Eindruck lässt hoffen. Wir starten mit einem Aperitif des Hauses, dessen Name ich leider vergessen habe, der aber durch seine Zweifarbigkeit, oben transparent, unten violett, auffällt und etwas bitter nach Wachholder schmeckt und ganz schön sprittig ist. Bis wir die Burger des Hauses bestellen, habe ich schon ganz ordentlich die Lampen brennen. Ist aber auch klar, denn seit der Pause gegen Mittag am St. Bernard Pass gab’s nix mehr. Ich kann für mich sprechen, die Entscheidung für den Burger ist gefallen, weil der Hunger die Neugier auf etwas ausgefalleneres überwiegt und kein Raum für Überraschungen existiert. Damit das Ding rutscht, wir bestellen jeweils zwei Scheiben Fleisch, lassen wir uns vom Chef die Rotweinempfehlung des Hauses dazu servieren. Beim Essen stellen wir fest, dieser Versuch, den Barre des Écrins zu besteigen, hat in jeglicher Hinsicht einen besseren Start als alle anderen davor. Kann ja nur gut werden.
Die Qualität des Essens setzt sich auch am nächsten Morgen beim Frühstück fort. Der Kaffee verdient seinen Namen, das Baguette ist frisch, Käse, Schinken und Marmelade stammen aus dem Ort. Einfach gut. Und weil uns das so gut gefallen hat, angeln wir uns für den Tag des Abstiegs hier gleich nochmal ein Zimmer. Das letzte, dass von Mittwoch auf Donnerstag noch verfügbar ist, so der Chef, und leider nicht mehr das gleiche, dass wir jetzt hatten. Wir nehmen es trotzdem und falls wir den Gipfel erreichen, soll es darauf Champagner geben, so als kleinen Anreiz, sich ein wenig anzustrengen.
Morgens vom Balkon aus, haben wir zwei Gleitschirme in der Luft gesehen. Die Windprognose ist allerdings nicht so, dass wir ernsthaft überlegen, die Schirme die 1400 Höhenmeter zur Hütte on top mitzuschleppen. Ist auch so alles schon schwer genug.
Von der Auberge aus erreichen wir den großen Parkplatz am Réfuge Cezanne in wenigen Minuten. Die Prognose für heute ist ein Sonnen-Wolken-Mix mit eher moderaten Temperaturen, aber es soll trocken bleiben, was auf jeden Fall besser ist, als bei 35° im Schatten zu starten, was hier sonst üblich ist.
Den Aufstiegsweg habe ich zwar als lang aber ganz gut zu gehen in Erinnerung. Der Parkplatz ist gerammelt voll und entsprechend viele insbesondere Touristen sind unterwegs zur Glacier-Blanc-Hütte, die mit etwa 700 Höhenmetern Aufstieg die Mitte unseres Weges heute bildet und auch für normale Fußgänger ganz gut erreichbar ist und für viele eine tagfüllende Unternehmung mit Einkehrmöglichkeit darstellt. Die Bergstiefel am Rucksack legen wir die Etappe bis dorthin mit Trailrunning-Schuhen zurück, wie oben erwähnt. Das geht trotz des schweren Rucksacks überraschend gut. Nur das Wetter ist ein bisschen blöd, denn kurz vor der Glacier-Blanc-Hütte auf 2542m beginnt es zu regnen. Erst nur ein paar Tropfen, doch dann müssen wir uns in der Hütte unterstellen, um einen ordentlichen Schauer abzuwarten, der laut Regenradar mindestens eine Stunde dauern wird. So wie die anderen gefühlten 1000 Menschen. Dicht gedrängt im Materialraum harren wir der Dinge. Unsere Trailrunning-Schuhe werden, in einem kleinen Packsack verstaut, hier bis morgen wohnen und die Füße werden sich auf den Moment freuen, wenn sie morgen hier wieder in leichtere Schuhe gesteckt werden. Eine gute Stunde später als es wieder ein wenig aufklart, starten wir in die zweite Etappe zur Écrins-Hütte, die uns auf jeden Fall bereits über den Gletscher führen wird. Kurz nachdem wir losgegangen sind, fängt es erneut zu regnen an, zudem ist es deutlich kälter und windiger als erwartet. Sehr unangenehm. Ans Zurückgehen denkt allerdings niemand, wir werden das schon aushalten, denn es sieht nach einer letzten Zuckung aus, bei der wir einfach nur durchgewaschen werden sollen, als nach einem länger andauernden Regen und als das Eis des Gletschers in Sicht kommt, hat es schon lange aufgehört und wir sind durch den Wind fast schon wieder trocken. Der Übergang vom Wanderweg aufs Eis hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Wir müssen ein wenig suchen, orientieren uns an einer größeren Gruppe mit Bergführer, in der sich sogar Kinder befinden und die für heute zumindest das gleiche Ziel haben wie wir, doch wir sind weiter unten schon falsch abgebogen und eiern jetzt über eine lose Schutthalde hinunter zum Eis. Dass der Wanderweg, den wir genommen hatten, später nochmal an einer anderen Stelle an den Gletscherrand führt, können wir nicht erkennen. Also geht’s ein Stück querfeldein. Wo wir hätten anders gehen müssen, sehen wir dann morgen im Abstieg.
Zumindest in meiner Erinnerung endete bei unseren letzten Malen der Wanderweg quasi an der sich anschließenden Trittspur im Schnee über den Gletscher. Das ist jetzt nicht so. Fast der ganze Weg bis zum Abzweig zur Hütte führt über Blankeis und Spaltenhopping mit entsprechendem Gespür für die richtige Route ist nun ein Thema. Wir starten mit Steigeisen seilfrei und erst kurz vor der Hütte gibt’s Altschneefelder mit Trittspuren, auf denen wir lieber angeseilt queren, denn wie dick diese Schneefelder sind und wie breit die Spalten, die sie ziemlich sicher überbrücken, ist nicht erkennbar. Für mich etwas überraschend kommt nach kurzer Zeit schon die kleine Bucht am Gletscherrand vorbei, ab der es über einen ziemlich schlecht zu gehenden Weg die Schutthalde zur Hütte hinaufgeht. Seil weg, Steigeisen ab und das lose Geröll hoch. Wir sind auf 3060m, die Hütte noch knapp 140 Höhenmeter entfernt und wie erwartet macht es total viel Spaß, auf mehr oder weniger allen Vieren irgendwie den besonders rutschigen unteren Teil zu überwinden. Zwei Leute kommen gerade mehr gleitend als gehend in Trailrunningschuhen entgegen kurz bevor wir nach oben starten und mir fällt auf, dass sie keinerlei Ausrüstung dabeihaben und so, wie sie sind, auf den Gletscher latschen und weiter absteigen. Finde ich gewagt, ist aber deren Gesundheit. Ich drücke ihnen die Daumen, dass sie mit ihren Turnschuhen einigermaßen gut über die Schneefelder und das Eis kommen.
Wir, indes, steigen zur Hütte auf, die sich schon bald zeigt, weiter oben ist dann auch der Weg besser und es geht zügig voran. Wegen meiner nicht besonders guten Erinnerungen an diese Unterkunft für die nächste Nacht, betrete ich mit sehr gemischten Gefühlen das kleine Steinhäuschen auf etwa 3170m durch den Materialraum, wo uns gleich zwei deutsche Bergsteiger über den Weg laufen. Wir reden kurz. Sie sind an diesem Tag an einem der umliegenden Berge zum Klettern gewesen und haben für den nächsten Tag ebenfalls den Barre des Écrins im Visier. Das wird wohl auf die meisten Menschen zutreffen, die heute hier sind, denke ich, womit ich mich jedoch irre, wie ich am nächsten Tag lerne. Alles, was nix im Schlafraum an Material verloren hat, bleibt hier: Seil, Steigeisen, Eispickel, Stöcke, Helme, Metall, dann geht’s weiter in den Schuhraum, wo wir unsere Bergstiefel gegen Crocks tauschen, die hier zur Verfügung stehen. Als das erledigt ist, auf durch die nächste Tür in den Essraum zur Anmeldung, wo wir für meine Überraschung a) wenige Menschen antreffen und b) eigentlich ganz nett von einem jungen Mann empfangen werden, der sogar ein paar Worte Englisch kann und wir mit unseren Französischkenntnissen nicht ganz auf verlorenem Posten stehen. Ein Pluspunkt. Er weist uns zwei Schlafplätze zu und ich erkenne bereits auf seiner Übersicht, dass zwei der Lager noch ganz leer sind. Er erkundigt sich, was wir am nächsten Tag vorhaben und teilt uns daraufhin mit, ab wann Frühstück bereitsteht und natürlich ab wann es heute Nachtessen gibt, womit für den Moment alles geklärt ist. Ich registriere, dass es sehr viel früher losgeht, als beim letzten Mal. Frühstück ist schon ab 3 Uhr in der Früh. Dann erstmal den Schlafplatz ausfindig machen und trockenlegen. Es ist tatsächlich wenig los irgendwie und was mir sehr positiv auffällt ist, dass die pandemiebedingten Trennwände, die zwischen den Schlafplätzen eingezogen wurden, immer noch da sind und nicht zu befürchten ist, dass einem nachts jemand auf die Pelle rückt, wie das beim letzten Besuch Astrid passiert ist. Das kleine Bisschen Privatsphäre, das dadurch entsteht, macht einen enormen Unterschied, wie ich finde. Alle Plätze sind mit ordentlichen Duvets und Kopfkissen ausgestattet, was beim letzten Mal auch nicht so gewesen ist. Noch ein Pluspunkt. Wir kehren in den Essraum zurück, draußen in der kaum vorhandenen Sonne sitzen ist keine Option, denn es ist wegen des Windes arschkalt und so starten wir die Wartezeit bis zum Abendessen zunächst mit einem Bier. Es ist auch in der Hütte superkalt und nur mit Daunenjacke zum Aushalten, so, wie kürzlich auf der Rothornhütte, ebenfalls ein kleines Steinhäuschen, auch. Auch Astrid ist nicht entgangen, dass es ziemlich früh losgeht, was zwar das Aufstehen nicht angenehmer macht, aber für die Tour an sich nur Vorteile bringt, wie wir vom letzten Versuch wissen, wo wir erst losgegangen sind, als es schon hell wurde, was definitiv zu spät gewesen ist. Wir nehmen uns vor, am nächsten Morgen keine Zeit zu vergeuden und so früh raus zu krabbeln, dass wir bis zum Frühstück alles erledigen und danach sofort starten können.
Bevor das Essen auf den Tisch kommt, passieren zwei Dinge: Ich stelle fest, dass es inzwischen zwei „normale“ Toiletten im Keller gibt und nicht nur diese mittelalterlichen Stehplumpsklos, nochmal Daumen hoch, und die neue Hüttenwirtin, die hier inzwischen das Ruder übernommen hat, hält, ähnlich, wie auf der Finsteraarhorn- oder Tierberglihütte, ein Briefing ab, um über Wetter und Bedingungen zu informieren. Die Frau ist mir sofort sympathisch und nachdem sie ihre Ansprache auf Französisch beendet hat, fügt sie an, wer möchte bzw. muss, kann sich diese Infos bei ihr beim Bezahlen nach dem Essen auch auf Englisch abholen. Ich bin von den Socken. Es weht ein ganz anderer Wind hier. Und das ist noch nicht das Ende, denn das anschließend aufgetischte Futter, von dem ich über diverse kleine Hinweisschilder bereits lernte, dass die meisten Zutaten aus der Region stammen, ist um Lichtjahre besser als bei den letzten beiden Malen, wo kaum identifizierbar gewesen ist, was da eigentlich auf dem Teller schwimmt.
Sehr fein alles, die Tour steht nach wie vor unter einem anderen Stern als sonst. Nicht lange nach dem Nachtessen, wir mussten etwas mit dem von der Hüttenwirtin großzügig gefüllten Krug Rotwein kämpfen, entscheiden wir, dass es Zeit fürs Bettchen ist. Material für den nächsten Morgen müssen wir keines mehr herrichten, denn wir können grad alles so aufnehmen, wie wir es bei der Ankunft eingeräumt hatten und damit bleibt nur noch Bezahlen übrig. Während die Hüttenwirtin die Rechnung zusammenstellt, quatschen wir über die Bedingungen und das Wetter, denn viel habe ich während des Briefings nicht verstanden, außer dass es windig aber ansonsten ganz gut werden soll. Es sei eine gute Spur vorhanden, der wir folgen sollten, denn am Vortag musste ein junger Bergsteiger ausgeflogen werden, der sich dazu entschieden hatte, im Einstieg in die Nordflanke so flach wie möglich von ganz rechts unten nach links oben den längst möglichen Weg unter der Seraczone durchzugehen. Das hat sich gerächt. Wir sollen unbedingt soweit links bleiben, wie es geht, auch wenn es dort am Steilsten ist, doch dort fällt am wenigsten runter. Weiter oben gibt’s zwar große Spalten, doch wir sollen einfach in der Spur bleiben, dann seien die kein Problem. Ja, dann. Alles klar soweit. Die Rechnung. Wenig mehr als 100 Euro. Wir staunen und fragen nach, ob sie denn wirklich alles drauf hätte, was heute so in uns hineingelaufen ist? Ja, sie hätte alles, das passt so. Unser Staunen rührt daher, dass wir die letzten Wochen in der Schweiz unterwegs gewesen sind, wo wir üblicherweise pro Person und Nacht diesen Betrag problemlos überschreiten, weil bereits die Halbpension in der Regel um die 80 CHF liegt und dann hat Frau noch nichts getrunken. Wir legen ein großzügiges Trinkgeld drauf, denn wir nehmen schon an, dass irgendetwas vergessen wurde, und verabschieden uns bis zum nächsten Morgen.
Der Wecker klingelt um 2:30 Uhr in der Früh, so zeitig wie noch nie, wenn wir hier gewesen sind und das ist für unser Vorhaben auch gut so, denn wir haben gelernt, wie weiter oben schon erwähnt, es ist klug, deutlich früher zu starten als bei den letzten Versuchen. Geschlafen habe ich, wie gewohnt, fast nicht, obwohl es recht kuschelig und vergleichsweise ruhig gewesen ist, gleichzeitig bin ich aber supermotiviert, komme relativ schnell in die Gänge und bin absolut sicher, dass wir heute auf dem Gipfel stehen werden. Bis zum Start des Frühstücks um 3 Uhr haben wir von Eincremen über Toilette bis Sachen packen alles erledigt, so wie es geplant war, doch der erste Dämpfer passiert als wir im Speiseraum sitzen und hören, wie der Wind draußen um die Hütte pfeift. Das hört sich ziemlich ungemütlich und nicht nach 30km/h an. Ist mir in der Nacht gar nicht so aufgefallen. Aber ist im Gebäude vielleicht auch gruseliger als draußen. Erstmal frühstücken, was schnell erledigt ist, denn es ist sehr überschaubar, wie meistens in den Hütten.
Dann rein in die Bergstiefel, Windjacke an, Klettergurt drüber, Metall an den Gurt, Helm auf, Seil, Steigeisen und Pickel in bzw. an den Rucksack und los. Ein Novum: Astrid und ich schalten um 3:30 Uhr unsere Helmlampen an und brechen als erste Seilschaft zum Gipfel auf. Das hat es noch nie gegeben. Bereits auf dem Weg die Schutthalde hinunter aufs Eis zerrt der Wind an uns. Ich schätze die Böen auf etwa 50km/h und sie kommen so überraschend, dass ich wirklich aufpassen muss, nicht umgeweht zu werden. Blöd. Weil es noch stockfinster ist, kann ich nicht erkennen, wie es um die Sicht steht. Nebelschwaden ziehen allerdings ständig durch den Lichtkegel meiner Lampe. Am Eisrand angekommen, verstaue ich unseren Packsack mit den Hüttensachen zwischen den Felsen und packe zusätzlich ein paar Steine drauf, um zu verhindern, dass der Sack im Wind abhaut, was ich tatsächlich befürchte. Hinter uns kommt die deutsche Seilschaft den Pfad hinab. Es sind nur 3 von den erwarteten 5. Nachdem wir uns für die Gletscherbegehung fertig gemacht haben, liegen wir weiterhin vorne und gehen als erste Seilschaft in die Spur den mehr oder weniger flachen Teil des Glacier Blancs hinauf. Auf der Ebene erscheint der Wind noch stärker zu sein und bei jeder Böe muss ich mit meinen Stöcken dagegenhalten, um in der Spur zu bleiben, die sich allerdings immer wieder auf blanken Stellen verliert und die Wegfindung etwas erschwert. Die prinzipielle Richtung ist jedoch klar. Es kommt noch was Blödes hinzu: Regen. Wir besprechen kurz, ob wir so weitergehen wollen: Ja, wir wollen, denn das Wetter wird wahrscheinlich besser werden, wenn es hell wird und so viel Regen ist es nicht, als dass wir deswegen hinschmeißen müssen. Also weiter. Der Schnee, wenn er denn noch vorhanden ist, ist butterweich, für die Uhrzeit ein ziemlich ungünstiges Vorzeichen. Trotz starkem Wind auf jeden Fall Plusgrade die ganze Nacht hindurch auf deutlich über 3000 Meter. In der Ferne rumpelt es einmal ordentlich aus Richtung der Seraczone. War ja klar. Nach etwa einer Stunde Schneematsch und crushed Ice, passieren wir die ersten Eistrümmer auf der Gletscheroberfläche, die aus der Seraczone heraus hinuntergestürzt sind. Das Bild ist uns nicht unbekannt und macht uns an dieser Stelle nicht nervös. Die meisten Brocken fallen nachmittags runter und liegen dann eben hier. Ich blicke mich mal kurz um, um an den Lichterketten hinter uns zu sehen, wie viele Menschen ungefähr folgen und ich bin sehr überrascht, dass a) die 3er Gruppe mit den jungen Burschen aus München, alle mindestens 20 Jahre jünger sind als wir, uns bisher nicht eingeholt hat und b) dass überhaupt sehr wenige Seilschaften unterwegs sind. Höchstens die Hälfte derer, die mit uns übernachtet haben, was ich absolut nicht erwartet hätte. Ob’s dem doch deutlich widrigeren Wetter geschuldet ist?
Wir nutzen den kurzen Stopp, um zu essen und zu trinken bevor es richtig steil durch die Innenkurve unterm Rand der Seraczone hindurch rauf geht, denn dort ist Anhalten wegen des drohenden Eisschlags verboten. Wir sind immer noch die erste Seilschaft als wir uns auf machen, die Spur zu finden, die hier mindestens 40° steil am linken Rand nach oben führen soll, finden sie aber nicht. Macht nix. Die Richtung ist ja klar, also legt Astrid, die vorangeht, eine eigene Spur an, in die auch die folgende 3er Seilschaft einsteigt. Gerade als wir weiter oben doch auf die vorhandene Spur treffen, holen diese uns im steilen Gelände ein, worüber ich allerdings nicht traurig bin, denn es ist ziemlich mühselig, im weichen Schnee so steil nach oben zu stapfen. Das geht deutlich besser, wenn die Tritte durch andere etwas verfestigt sind. Auch die drei Jungs fluchen ein wenig, weil es so weich und rutschig ist und wir dann auch noch auf ein Stück blankes Eis treffen, an dessen unterem Rand die wabbelige Spur vorbeizieht. Es wird etwas flacher, wir kommen so langsam aus der Gefahrenzone heraus, die Dämmerung ist inzwischen im Gang, doch es bleibt irgendwie düster, weil der ganze Gipfelaufbau permanent in Wolken gehüllt ist und es die Sonne nicht schafft, durchzubrechen. Immerhin müssen wir im weiteren Verlauf die Spur nicht mehr suchen, denn die, in der Nacht zugeweht, wird nun von den Jungs vor uns wieder freigelegt. Aber Achtung, es bleibt anhaltend anspruchsvoll, denn der Gletscher in diesem Hang ist unglaublich zerrissen, was wir so in den letzten Jahren nicht hatten und bei fast jedem Schritt besteht die Gefahr, in irgendetwas einzubrechen. Wir erreichen ein ganz besonders zerklüftetes Gewirr, die drei vor uns sind durchgestiegen und laufen ein Stück oberhalb kaum sichtbar durch den Nebel weiter, doch wir überlegen hier bereits ernsthaft, ob es uns das Risiko als 2er Seilschaft wert ist, wenn wir weitergehen. Die Brücken über die Spalten sind teilweise weniger als 50cm dick, der Schnee ist butterweich und wir können uns gegenseitig nicht einfach so halten, wenn so ein Ding vollständig kollabiert. Das ist uns bewusst.
Wir entscheiden weiterzugehen. Ganz vorsichtig, das Seil immer gespannt, den Pickel bremsbereit, arbeiten wir uns durch den Trümmerhaufen, wobei zu jeder Zeit so ein Eisturm auch einfach mal umfallen kann. Es geht gut, wir erreichen das andere Ende, von dem aus es steil raus nach oben geht und die Spur sofort wieder 180° kehrt macht und im Nebel verschwindet. Auf der offenen Fläche ist der Wind erneut ein Thema, von dem ich den Eindruck bekomme, dass er weiter zugenommen hat. Die Sicht ist zeitweise fast Null, für ankommende Böen gibt es keine Möglichkeit, sie rechtzeitig zu erkennen, so dass Frau immer erst reagieren kann, wenn sie bereits erfasst wurde. Aber es geht irgendwie. Noch ein, zwei Kurven, die eine oder andere Spalte, dann merke ich, dass wir den Punkt oben links in der Nordflanke erreicht haben, von dem aus es unter dem gesamten felsigen Teil des Gipfelaufbaus zurück in Richtung Dôme de Neige bzw. dem Bergschrund darunter geht, über den wir die Senke in der Brèche Lory erreichen können. Genau unter der Brèche Lory ist der Schrund allerdings nicht überwindbar, doch wir sehen die 3 Burschen dort auf dem unteren Rand sitzen und Pause machen. Wir steigen zu ihnen, setzen uns dazu, dort pfeift der sehr stark gewordenen Wind nicht so rein, und reden kurz. Deren Pläne, über den Westgrat auf den Gipfel zu gehen, so, wie wir das auch vorhaben, sind bereits geplatzt, sie wollen lediglich noch den Nebengipfel, dem Dôme de Neige auf 4015m erreichen. Mehr sei nicht realistisch bzw. auch einfach zu gefährlich. Ja, so ähnlich geht es uns auch. Als die drei aufbrechen, kommt eine französische 2er Seilschaft von unten hoch, die sich ebenfalls zur Pause bei uns einfindet und wir sprechen auch mit ihnen. Sie haben ihren Plan, auf den Barre raufzusteigen, ebenfalls bereits drangegeben und wollen nur noch auf den „kleinen“ Gipfel nebenan. Der Schrund unterm Dôme de Neige ist ganz gut eingeschneit und gut zu überwinden, allerdings schließt sich blankes, steiles Eis unmittelbar daran an und wir beobachten die drei anderen, wie sie sich abmühen und irgendwann zur Absicherung zu Eisschrauben greifen, weil es mit Hochtoureneisen und nur einem Pickel für Normalsterbliche wirklich etwas haarig ist. Astrid und ich steigen vom Pausenplatz ab in die Spur, doch dabei weht uns der Wind schon fast runter. Der über uns liegende felsige Grat ist in so dichten Nebel gehüllt, dass er selbst dann nicht zu sehen wäre, wenn Frau mit der Nase dran stößt. Nach der Pause fährt mir dann zusätzlich die Kälte auch noch durch und durch, der Motivationspegel sinkt in Sekundenschnelle in Richtung Null und auch in Astrids Augen ist zu lesen, wie es ihr mit der Situation geht. Wir halten fest, physisch geht’s uns gut, dank des permanenten Trainings, die Zeit ist absolut in Ordnung, es ist etwa halb acht morgens und unter normalen Umständen gäbe es überhaupt keinen Zweifel, dass wir genau richtig und nicht überfordert sind. Erst recht als kurz der Nebel für 2 Sekunden aufreißt, der Grat zu sehen ist und wir wissen, dass wir ihn hoch- und runterklettern könnten. Auch das steile Eis, dass wir hochklettern müssten, um in die Brèche Lory zu kommen, die den Einstieg in den Grat bildet, ist mit entsprechender Absicherung mit Rücklaufsperre für uns kein Hindernis. Doch der immer stärker werdende Wind und die fehlende Sicht sind ein K.O.-Kriterium für uns. Das sich daraus ergebende Risiko für die Kletterei ist es uns einstimmig nicht wert, einen Gipfelversuch zu wagen, darüber sind wir uns ziemlich schnell einig. Die nächste Frage, ob wir dann wenigstens, wie die anderen Seilschaften, auf den Dôme de Neige steigen wollen, ist auch schnell beantwortet: Eindeutig nein. Da sind wir schon zweimal gewesen und das zusätzliche Risiko mit dem steilen Eis ist es uns ebenfalls nicht wert, nur um nochmal dort zu stehen, wo wir schon waren. Dann bleibt nur noch eine Option übrig: Umdrehen, ohne Gipfel. Ach, z’fix. Was für ein Mist. Ich hadere mit mir, ob wir es nicht doch versuchen wollen, doch mein Bauchi ist eindeutig anderer Meinung. Das wäre lebensgefährlich und bei dem Wind und der Sicht gibt’s auch keine schnelle Hilfe, wenn’s schiefgeht. Der Mordsaufwand geht mir durch den Kopf, den wir betrieben haben, um hier zu stehen und dann so was. Die Vorhersage war: ein Sonne-Wolken-Mix bis Mittag mit maximal 35km Wind. Alles klar. Die Realität sieht anders aus. Wir machen in der Spur kehrt und beginnen den Abstieg. Der Entschluss ist gefasst, kurz weinen, dann umsetzen und nicht mehr hinterfragen, denn das bringt überhaupt nichts. Wir können hier nicht alt werden und auf besseres Wetter warten, denn das ist den Rest der Woche sowieso nicht in Sicht. Das war schon der beste Tag. Wir treffen auf eine weitere 2er Seilschaft, reden kurz, sie werden auch nur auf den „kleinen“ Gipfel gehen. Dabei wird mir bewusst, dass das erst die vierte Seilschaft inklusive uns ist, die von allen aus der Hütte den Weg hier rauf gefunden hat. Also mindestens die Hälfte ist gleich unten geblieben, auch die mit den Kindern drin.
Der Abstieg hält weiteren Nervenkitzel bereit, denn das Abenteuer ist mit der Entscheidung umzudrehen natürlich nicht zu ende. Der Wind ist so stark geworden, dass wir wirklich Acht geben müssen, in den steilen Stücken nicht aus der Balance zu geraten. Wenn eine abschmiert, schmiert die andere auch ab und dann geht’s im schlimmsten Fall für alle mit Schwung nach unten. Seilfrei zu gehen ist wegen der Spalten keine Option. Die Spur ist matschig. Not gegen Elend. Eine weitere 2er Seilschaft treffen wir noch, die uns entgegenkommt, aber es gibt anscheinend keinen Redebedarf, wir gehen schweigend aneinander vorbei.
Über die erwähnten superdünnen Schneebrücken müssen wir selbstredend auch wieder krabbeln, Seil gespannt, Pickel bremsbereit, ein Herz fassen und möglichst schonend mit ruhigen Bewegungen drüber. Dabei breche ich tatsächlich einmal ein als ich schon dachte, ich hätte das Schlimmste geschafft, doch ich bin nur mit einem Bein durchgebrochen, konnte mich aus eigener Kraft befreien und robbte auf allen Vieren an den festen Rand. Kein Drama. So was passiert schonmal. Wir kommen zügig voran und erreichen entsprechend schnell schon den letzten Hang über der Serac-Zone, erkennen im Hellen die Spur, die wir im Dunkeln morgens nicht fanden, und steigen steil in der Innenkurve ab, wobei über uns alles ruhig bleibt und nichts herausbricht und runterfällt. Als wir weit genug aus der Auslaufzone des Eisschlags raus sind, kommen wieder beide Stöcke raus, weil’s mit zwei Stöcken auf dem weichen Untergrund besser geht und so eiern wir zurück zur Bucht im Gletscher, wo sich der Hüttenzustieg befindet und wo unser Übernachtungszeug auf uns wartet. Der Platz bietet sich auch an, um nochmal ausgiebig Pause zu machen, da es keine nennenswerten objektiven Gefahren gibt, unter den Wolken scheint auch wieder ab und zu die Sonne durch und der Wind pfeift da auch nicht ganz so schlimm rein. Hier hatten wir Gelegenheit, mit einer weiteren Seilschaft zu quatschen, die von oben runterkamen und erfuhren, dass sie ebenfalls nicht in den Gipfelgrat eingestiegen sind, wegen des Windes. Über unsere Gleitschirmfliege-App finden wir heraus, dass die Böen zum Zeitpunkt unserer Umkehr auf dieser Höhe etwa 70km/h erreichten. Also gut das Doppelte von dem, was die Prognose bei Meteoblue für den Vormittag schätzte.
Während der Pause richtete ich mich in meinen Bergstiefeln nochmal neu ein, weil es irgendwo etwas zwickte, aber in Anbetracht der Tatsache, dass die Füße bereits zu Beginn der Tour angeschlagen waren, haben sie’s bis jetzt ganz gut weggesteckt. Leider hat der Rucksack ab jetzt, wo wir das meiste Material und die Hüttensachen wieder darin verstauen konnten, fast Startgewicht und muss ab hier weitere etwa 1400 Höhenmeter runtergetragen werden. Den weiteren Abstieg teilen wir jedoch nochmal auf, denn zunächst geht’s den Gletscher weiter runter, wo wir am Übergang auf den Wanderweg nochmal anhalten, um die Steigeisen, den Gurt und das Metall wegzupacken, dann schließen sich 300-400 Höhenmeter zur Glacier-Blanc-Hütte an, an der wir eine Portion Pasta Ragôut reinwerfen und ausgiebig rasten und auf die leichten Schuhe umsteigen, die hier übernachtet hatten. Hier treffen wir außerdem die ganze deutsche Seilschaft aus München wieder, von denen 3 bis auf den Dôme de Neige gekommen sind. Wir sind uns einig, dass die Verhältnisse eher schlecht bis miserabel gewesen sind. Bis zum Parkplatz liegen weitere etwa 750 Höhenmeter vor uns, auf denen wir uns zwischen den Unmengen an Touristen hindurchwühlen müssen, denn im Gegensatz zu Nebel, Regen, Sturm, Schnee und Eis oben, ist es weiter unten stabil heiß und trocken, was gefühlt Millionen Ausflügler anlockte. Wir fühlen uns sehr unwohl zwischen so vielen Menschen. Ich versuche, alles bis aufs gleichmäßige Gehen auszublenden und gehe in den Beppo-Straßenkehrer-Modus über. Falls den jemand kennt. Wenn nicht, empfehle ich, Momo von Michael Ende zu lesen.
Dieser letzte Abschnitt geht irgendwann auch zu ende, wir nehmen die letzten Brücken über die Gletscherabflüsse, wackeln durch ein kleines, lichtes Waldstück am Réfuge Cezanne vorbei und erreichen unser Autochen auf dem riesigen, aber vollen Parkplatz. So richtig, weiß ich nicht, was ich von der Tour halten soll. Ich weiß ebenfalls noch nicht, ob ich das nochmal brauche, gleichzeitig kann ich mich nicht damit abfinden, sogar nach dem dritten Anlauf immer noch nicht auf dem Gipfel gewesen zu sein, obwohl ich felsenfest davon überzeugt bin, dass wir mit den Anforderungen zurechtkommen. Eine harte Nuss. Falls ein erneuter Versuch in Frage kommt, sollte der nicht wieder Jahre entfernt liegen, denn die Verhältnisse an diesem Berg auf der Normalroute werden rasant schlechter. Jetzt aber schnell aus den bappigen Klamotten raus und zurück in die Auberge, bei der ich mich sehr aufs Abendessen freue. Champagner wird es keinen geben, doch den brauchen wir nicht, um uns gutes Essen schmecken zu lassen und einen schönen Abend zu haben. Wir sind ohne Blessuren vom Berg runtergekommen, haben einiges erlebt, neue Eindrücke gewonnen, Neues gelernt und zwei grandiose Tage zusammen draußen verbracht, dort, wo nicht mehr einfach so alle Touristen hinkommen. Der erste Gedanke beim Umdrehen war, dass es das jetzt gewesen ist, ich komme nicht wieder hierher. Doch bereits beim Schlemmen am Abend wenden sich die Gespräche, denn eigentlich wäre es eine feine Gegend, um mal etwas länger zu bleiben, weil Frau hier so viel unternehmen kann. Bergsteigen, Klettern, Wandern, Radfahren, Fliegen und selbst einfach mal Baden gehen ist möglich. We’ll see. Zunächst wartet die elend lange Rückfahrt auf uns, die wir mit einer Einkehr in unserem Stammgasthaus beenden.
Aristoteles: Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen.