Barre des Écrins, 4102m, 03.-04.07.2025
Dieses Abenteuer begann vor 11 Jahren, als wir 2014 im August das erste Mal versuchten, diesen Berg allein zu besteigen. Bisschen naiv rückblickend, aber gelernt haben wir damals schon was. Es ist nützlich, wenn Frau nicht völlig unfit und unakklimatisiert ist, denn in diesem Jahr haben wir unsere Holzhütte gebaut, verbrachten viele, viele 10.000km auf der Straße, konnten uns nur wenig bis keine Zeit für Sport aus den Rippen schneiden und wollten im Sommer einfach irgendwie wenigstens einen 4000er machen und dachten, der Barre des Écrins wäre da genau die richtige Wahl. Schenkelklopfer. Das war gleichzeitig das erste Mal, dass wir wegen des superblöden Hüttenwegs vom Gletscher zur Écrins-Hütte beschlossen, dort keine weitere Nacht zu verbringen und stattdessen 2200 Höhenmeter am Stück abzusteigen, was uns im Anschluss Schmerzen aus der Hölle bescherte. 2018 setzten wir das Abenteuer fort, waren besser akklimatisiert aber im Grunde immer noch einigermaßen unfit, hatten jedoch aus der ersten Runde gelernt, dass es schlau sein könnte, wenigstens ansatzweise zu wissen, wie Frau sich am laufenden Seil am Grat bewegt. Dazu hatten wir extra ein Wochenende mit Bergführer Jürgen investiert, der uns versucht hat, aufs Pferd zu heben, was auch im Prinzip gelungen ist, denn immerhin schafften wir es im zweiten Anlauf tatsächlich in die Gratkletterei ab der Brèche Lory knapp unter 4000m einzusteigen, wobei der Beginn mit Abstand die schwierigste Stelle mit dem höchsten Risiko ist. Fehlende Geschwindigkeit beim Klettern hat uns dann ins Aus buchsiert, weil wir uns nicht trauten, das von Jürgen gelernte in der Wildnis umzusetzen und als dann noch der Heli wegen einer Seilschaft über uns anrückte, verließ uns der Mut vollständig. Rückzug. An dem Berg war erstmal ein Haken dran. Übrigens war das Réfuge des Écrins bis dahin eine nackte Katastrophe, Essen extrem schlecht, typische französische Stehklos draußen, kalt wie Sau, unfreundliches Personal, Frühstück erst ab 6 Uhr, weil der Hüttenwart keinen Bock hatte, früher zu starten.
2023 im Sommer, nachdem wir im ersten Versuch den Gipfel des Zinalrothorns nicht erreichten, am Watzespitze-Ostgrat gescheitert sind und plötzlich ein 3-Tage-Fenster im August aufging, an dem wenigstens ein Tag so aussah, dass der Barre gehen könnte, brachen wir erneut auf, fuhren 10 Stunden durch 5 Länder, stiegen auf die Écrins-Hütte auf, ab der Glacier Blanc Hütte im Regen, stellten immerhin fest, dass die Dinge sich auf der Écrins-Hütte mit einer neuen Hüttenwartin um Lichtjahre verbessert hatten und gingen in der darauffolgenden Nacht als nur eine von vielleicht 4 Seilschaften los. Regen, starker Wind, keine Sicht, aber wir waren immerhin sehr viel schneller als sonst am Umkehrpunkt angekommen, als wir erkannten, dass wir ab dem Bergschrund unter der Brèche Lory nichts erkannten, da der ganze Grat bei 70km/h Wind in den Wolken lag. Ging allen Seilschaften an dem Tag so. Außerdem waren der Auf- und Abstieg durch die Nordflanke völlig anders als wir es bis dahin kannten. Riesengroße Spalten und Seracs, sehr dünne Übergänge, wenig bis kein Schnee, viel steiles Eis, kein Ort an dem Frau Zeit verbringen will. Deswegen beschlossen wir, es 2024 bereits in der ersten Juliwoche erneut zu versuchen, dieses Mal soll es mit Bergführer sein, doch wenige Wochen zuvor brach nochmal der Winter los und brachte so viel Neuschnee, dass wir keinen Führer für unser Vorhaben gewinnen konnten. Immerhin sind wir an den Tagen im Tal jeden Tag geflogen. Zu allen Versuchen gibt’s hier die Geschichten.
Der Berg lässt uns nach wie vor nicht los. Dieses Jahr haben wir wieder die erste Juliwoche frei, rollen seit Ostern mit unserer mobilen Ferienwohnung in Form eines Pickups mit absetzbarer Wohnkabine in der Gegend rum, was uns extrem viel flexibler macht und wir beschließen, noch ein einziges Mal den weiten Weg auf uns zu nehmen, um mit Bergführer den allerletzten Versuch zu unternehmen. Die supernette Frau vom Bureau de Guides in Ailefroide organisiert uns neben der Hüttenreservierung einen Menschen namens Martial, der etwas Englisch spricht und den wir zu einer vereinbarten Zeit am Réfuge de Glacier Blanc treffen werden, denn bis dahin handelt es sich um einen einfachen Wanderweg, doch auf dem Weiterweg zur nächsten Hütte geht’s bereits über den Gletscher, was sie die Gäste selbstredend nicht allein machen lassen.
Einen einzigen Haken hat die Sache zu dem Zeitpunkt noch, denn Astrid und ich haben dieses Frühjahr sehr viel Zeit und Energie in den Abschluss der unbeschränkten Fliegelizenz gesteckt, was tatsächlich funktioniert hat, uns aber keinerlei Akklimatisierung verschaffte. Gleichzeitig wissen wir von unseren vielen Hike&Fly-Touren, dass wir einigermaßen fit durch den Winter gekommen sind und mit schwerem Gepäck 1000 Höhenmeter in unter 2 Stunden gehen können, ohne zu sterben, was nicht so ganz schlecht ist für Menschen, die noch andere Dinge tun, außer in die Berge zu gehen. Des Weiteren wissen wir von unzähligen Touren in den hohen Bergen, dass wir trotz fehlender Akklimatisierung ganz gut mit dem sinkenden partiellen Sauerstoffdruck zurechtkommen und so schon auf über 4500m gewesen sind, was zwar schwer fiel, uns aber nicht umgebracht hat. Geht dann bloß alles etwas langsamer, aber es geht.
Dummerweise kam dann zwei Wochen vor dem Start doch noch ein zweiter Haken dazu. Seit einigen Jahren ist ein POPS bei mir diagnostiziert, eine schmerzhafte Verknöcherung am Sehnenansatz der großen Mittelfußsehne links. Der Doc hat damals gesagt, er kann’s operieren, dann tut es möglicherweise nicht mehr weh, doch ob dann Bergsteigen noch geht, bezweifelt er. Also hab‘ ich’s die letzten Jahre auf dessen Empfehlung ohne OP konservativ mit orthopädischen Einlegesohlen versucht, in den Griff zu bekommen, was anfangs ein wenig Linderung bedeutete, doch irgendwann ist auf einem Abstieg diese Verknöcherung wohl gebrochen, zumindest hab‘ ich was brechen gehört, und ich konnte wochenlang nicht richtig geradeaus gehen. Auslöser war sehr wahrscheinlich eine nicht so optimale neue Einlegesohle, die zwei Tage lang auf der Bergtour genau auf die Verknöcherung drückte. Danach ließ ich das mit den Sohlen bleiben und es ging wieder 2-3 Jahre so. Bis zur vorletzten Landung am Fronleichnams-Wochenende. Schätze, da ist wieder das gleiche passiert und der Zirkus ging von vorne los. Ab da tickte die Zeit, ob ich zwei Wochen später soweit wieder auftreten kann, dass überhaupt an Bergsteigen zu denken ist. Ich hätte kotzen können. Fuß schonen, kein Laufen, auf jeden Schritt Acht geben, bestenfalls ein bisschen Radfahren war möglich, was ein wenig gegen die Schwellung half. Am Tag des Aufbruchs ins 800km entfernte Vallouise-Pelvoux konnte ich halbwegs wieder ohne Schmerzen auftreten und so starteten wir auf diese Reise. Priml.
Nach fast 10 Stunden Fahrt von Astrids Eltern aus, auf der unsere neue Bip&Go Box das erste Mal bei der Ausfahrt aus einer gebührenpflichtigen Straße in Frankreich versagte, verbrachten wir die erste Nacht auf der Passhöhe des Col du Lautaret auf etwas über 2000m, sozusagen als Minimalversuch, etwas für unsere Akklimatisierung zu tun. Am nächsten Morgen spielte ich dort in den Bergen in der Sonne etwas auf meiner Handpan in einer grandiosen Kulisse, was mich stets tief im Inneren berührt und nur dadurch möglich wurde, dass wir unser rollendes Häuschen dabeihaben und stehenbleiben können, wo es uns taugt, statt bis zu einer gebuchten Ferienwohnung durchfahren zu müssen, wie sonst. Wirklich eine feine Sache.
Vom Col du Lautaret ist’s nicht weit bis nach Briançon, wo wir uns per Stopp am Supermarkt und an der Tankstelle (das ist der einzige Wehrmutstropfen am Pickup: er hat Riesendurst mit der Kabine drauf) für die nächsten Tage mit dem Notwendigsten versorgen und dann geht’s von dort ins Vallouise-Pelvoux. Vom vergangenen Jahr kennen wir den Campingplatz am Zusammenfluss von Gyr und Onde, wo sich auch gleichzeitig der Landeplatz und eine Gleitschirmflugschule befindet und beschließen, den Tag dort in Ruhe zu verbringen. Es ist noch nix los, keine Ferien in Frankreich, die Sanitäranlagen sind für französische Verhältnisse ganz OK und wir können von dort am nächsten Tag direkt zu Fuß mit sehr moderaten 500 Höhenmetern zum nächsten Startplatz in Puy-Aillaud aufsteigen, um noch eine Runde zu fliegen, bevor das Bergabenteuer startet. Der Aufstieg ist gleichzeitig ein Test für meinen linken Huf, ob er überhaupt mit schwerem Gepäck funktioniert.
Vergangenes Jahr hatte es bei einem Hochwasser den gesamten Campingplatz dahingefegt, der inzwischen wieder fast vollständig wiederhergestellt ist. Das Personal, überwiegend junge Leute, die auch ein wenig Englisch sprechen, ist freundlich, der Preis moderat und es gibt eine Ver- und Entsorgung für Camper, was es uns ermöglicht, so viel Ballast wie möglich loszuwerden, bevor wir irgendwohin weiterfahren.
An diesem Nachmittag beobachten wir bei Kaffee&Kuchen im Schatten sitzend nur noch die Gleitschirme in der Luft, ich spiele ein wenig auf meiner Handpan, wir checken nochmal das Wetter für den nächsten Tag, bzw. auch für die geplanten Bergtage und stellen fest, dass wir es ganz gut treffen könnten, denn die Prognosen werden immer besser für den Gipfeltag.
Am nächsten Tag, der Mittwoch der Woche, gehen wir mit gepackten Fliegesäcken einigermaßen zeitig los zum Startplatz. In dieser Gegend muss Frau immer auf den Talwind achten, der normalerweise zuverlässig startet und dann in der Regel recht stark wird, weswegen die Flugschule bereits morgens um 8 ihre Schüler in die Luft schickt, wenn es die Startbedingungen zulassen, weil das Fenster für Anfänger:innen spätestens mit einsetzender Thermik schließt, was an diesen heißen Tagen etwa um Mittag herum sein wird und gleichzeitig der Startschuss für den Talwind ist. Ein Grund warum wir nicht so spät dran sein wollen. Große Thermikflugerwartungen haben wir nicht, denn das eigentliche Ziel der Übung ist herauszufinden, ob ich mit dem Fuß am nächsten Tag den Hüttenzustieg angehen kann, denn wenn ich die 500 Höhenmeter nicht ohne Probleme mit dem schweren Rucksack schaffe, hat sich die Besteigung des Barre erledigt. Tatsächlich ist es so, dass wir in etwas mehr als einer Stunde entspannt am Startplatz ankommen und mir nix fehlt. Der Fuß erinnert mich zwar bei jedem Schritt daran, dass ich Achtsam sein muss, doch er streikt nicht und wird nicht blöder. Sieht nicht so schlecht aus.
Am Startplatz angekommen, fällt gleichzeitig eine Ladung Flugschüler aus dem gerade eingetroffenen Flugschulbus raus, zusätzlich finden sich die ersten Freiflieger:innen ein, die auf die Thermik warten, die Schlange wird länger und weil die Flugschule gefühlt Vorrang hat, das Startgelände wird ihr wohl gehören, setzen Astrid und ich uns erstmal hin und beobachten die Szenerie und die Windfähnchen. Eins muss Frau ja zugeben: Die Flugschüler starten alle sehr schön. Es gibt keine Abbrüche oder sonstwie irgendwelche unsauberen Aktionen. Als die Welle der Startenden etwas abflaut, machen auch wir uns fertig, womit wir gefühlt zu den Thermik-Dummies werden, denn als die jungen Testosteron-Heinis das bemerken, lassen sie uns gerne den Vortritt, weil sie sehen wollen, ob die Thetas steigen. Soviel Französisch kann ich dann auch. Aber wie gesagt, ist nicht schlimm, ich kann für mich sagen, dass ich keine Erwartungshaltung hab‘, außer schön zu fliegen. Und so starte ich gegen halb zwölf als erste, steuere sofort die Landmarken an, von denen ein Steigen zu erwarten ist und wurschtele darüber so vor mich hin, ohne dass es Netto wirklich rauf geht. Alle, die nach mir starten, machen die gleiche Erfahrung und erst als Astrid eine ganze Weile nach mir starten kann, beginnt die warme Luft zu tragen. Zu dem Zeitpunkt, Astrid kreist weit, weit über mir im Pulk, ist mir jedoch schon eine Weile bewusst, dass ich nicht mehr weit von der Landeentscheidung entfernt bin und weil ich kein größeres Bedürfnis verspüre, noch weiter auf Baumwipfelniveau am Hang hin und her zu kratzen, fliege ich in die Talmitte und beginne mich damit zu beschäftigen, wo wohl der Wind herkommt und wie demnach meine Landeeinteilung aussehen kann. Als Astrid das mitbekommt, biegt auch sie in die Talmitte ab und beginnt damit, ihre Höhe per Spirale abzubauen.
Mit landen habe ich mal wieder ein Thema. Je näher ich dem Boden komme, desto unruhiger wird die Luft, doch eine eindeutige Windrichtung ist nicht erkennbar. Die Windfahne am Landeplatz, die ich irgendwann erkenne, zeigt alle paar Sekunden schwach eine andere Richtung an. Einen anderen Fliegenden kann ich bei dessen Landung beobachten, bevor auch ich handeln muss und entscheide mich dazu, weitgehend dessen Route zu folgen, habe allerdings im Gegensatz zu ihm oder ihr im Endanflug so viel Steigen, dass mir der Platz nach hinten ausgeht und ich nicht auf meiner geplanten Richtung bleiben kann, wenn es kein Baum auf dem Campingplatz werden soll. Ich drehe quer zum letzten bekannten Wind, verschaffe mir so ein paar Meter mehr, doch damit geht die Option, sauber auf meinen Füßen zu landen, über den Jordan und ich entscheide mich kurz vorm Aufsetzen für den Protektor. Dafür ist er da. Beim Durchbremsen rutsche ich kurz auf dem Popo und stehe mit der letzten Energie im Schirm wieder auf. Naja, nicht schön, aber immerhin hab‘ ich mir in dem hohen Gestrüpp auf dem Landefeld nix getan, was die Bergtour weiter gefährdet hätte. Kurz hinter mir kommt Astrid rein und ich erkenne, dass sie mit den gleichen Problemen zu tun hat, so, wie übrigens 4 von 5 Landenden heute, und sie tut dann auch das gleiche, wie ich. Hätte es in irgendeiner Form eine Aufstiegshilfe gegeben, wären wir wahrscheinlich nochmal hochgefahren, doch mangels eines solchen Angebots sind die Aktivitäten für diesen Tag beendet. Wir packen ein, schlendern zu unserem Platz, drehen die Markise raus, machen es uns gemütlich und ich döse tatsächlich nach Orangina und dem ersten Kaffee und dem Hochladen des Fluges ein. Ist auch mal schön, ehrlich gesagt. Immerhin haben wir so etwas wie Urlaub und es wird ziemlich sicher noch anstrengend genug diese Woche. Ein auffrischender Wind, fehlende Sonne und die ersten Regentropfen wecken mich auf. Zeit fürs Abendessen und das Landebier, Markise rein, Stühle unters Auto und ab in die kuschelige Wohnkabine, wo sich das aufziehende Wärmegewitter ganz gut aushalten lässt. Mein Huf hat zu der Bewegung heute nichts zu sagen, alles gut und ich treffe für mich die Entscheidung, dass wir morgen mit dem Aufstieg beginnen. Letzter offener Punkt ist der kleine Felstunnel auf dem Weg nach Ailefroide, von dem wir nur über ein Foto bei Google Earth herausfinden können, dass er angeblich eine Durchfahrtshöhe von 3,25m hat. Das ist knapp, müsste aber gehen.
Zum Frühstück haben wir uns beim Brötchenservice des Campingplatzes ein Baguette und zwei Pains au Chocolat bestellt, das muss sein, wenn wir schonmal da sind, doch bevor wir die Leckereien abholen, machen wir unser Gefährt startklar, denn Trödeln ist an dem Morgen nicht. Bis Pré de Madame Carle, wo wir den Aufstieg zur Glacier Blanc Hütte starten, fahren wir etwas länger als eine halbe Stunde, gegen 13 Uhr sind wir an der Hütte mit dem Bergführer verabredet und der Plan ist, möglichst langsam zu gehen, um der weiteren Akklimatisierung auf diesen ersten etwa 850 Höhenmetern bis auf rund 2550m zu helfen. Uns erreicht außerdem eine Sprachnachricht von Bergführer Martial, der uns mitteilt, dass bei dem Gewitter gestern Abend die Brücke oberhalb Pré de Madame Carle weggerissen und behelfsmäßig eine Seilbrücke eingerichtet wurde, an der Frau sich mit Klettergurt einhängen und rüber ziehen kann, ob wir das hinbekommen? Natürlich bekommen wir das hin und freuen uns schon auf die kleine Abenteuereinlage, die allerdings weiter die Zeit strapazieren wird.
Also eines muss Frau den Franzosen ja lassen: IT können sie nicht, aber alles, was sich im Bereich Croissant und Pain au Chocolat abspielt, gibt es in gut nur in Frankreich und so muss auch Zeit sein für ein gemütliches Frühstück bevor wir den Motor anlassen. Lecker.
Mit schokoladenverschmierter Schnute machen wir uns auf den Weg herauszufinden, ob wir durch den kleinen Felstunnel passen, und ja, tun wir, auch wenn es wirklich knapp ist, es geht weiter nach Ailefroide, ein Ort mit 5 Häusern, einem Sherpa-Market und dem Bureau de Guides, der im Wesentlichen nur aus einem im Wald gelegenen Campingplatz für Kletternde besteht und von dort führen die schmalen Serpentinen durch immer weiter zurückgehende Vegetation bis rauf zum Ende der Straße bei Pré de Madame Carle auf etwa 1870m, deren Parkplatz normalerweise im Sommer von Touristen überflutet ist. Aber noch sind keine Ferien, Parkplatz gibt’s genug, wir suchen uns eine Ecke wo wir hindernisfrei mit dem Heck soweit über die Pampa fahren können, dass wir vorne nicht mehr in den Fahrweg ragen und das Auto für zwei Tage stehen bleiben kann. Ein kurzer Check meines Hufes. Ich höre in mich hinein und bin ausnahmsweise optimistisch, dass es gut werden könnte. Unsere Bergrucksäcke sind soweit gepackt, das hatten wir abends noch erledigt, Sonnencreme muss auf jeden Fall drauf, den Kühlschrank stellen wir auf reinen Gasbetrieb um, damit es keine Überraschung mit fehlendem Strom gibt und ziehen alle Verdunkelungen hoch, in der Hoffnung, dass sich die Kabine nicht zu stark aufheizt, obwohl es in dieser Höhe bereits deutlich weniger von oben brennt als unten im Tal. Weil sich die Vorgehensweise vom letzten Versuch bewährt hat, bis zur ersten Hütte in Trailrunningschuhen zu gehen, dort erst auf die Bergstiefel zu wechseln und die leichten Schuhe an der Hütte für den Abstieg zu lassen, machen wir das wieder genauso. Und bis zur ersten Hütte genügen zudem kurze Sachen, die wir mit den Schuhen für den Abstieg dort lassen. Dadurch, dass wir selbst kein Seil mitnehmen müssen und auch nur das Nötigste an Metall, ist der Rucksack mit Bergstiefeln dran immer noch leichter als sonst und nach der Erfahrung letztes Jahr am Zinalrothorn bin ich von meinem Tripp runter, Unmengen an Wasser mitnehmen zu müssen, sondern packe nur so viel ein, dass es von einer Hütte zur nächsten reicht. Ist übrigens auch ein Pluspunkt der beiden Réfuges: Es gibt kostenlos Trinkwasser zum Abfüllen. Diese Maßnahme hat es mir darüber hinaus ermöglicht, von meinem riesigen Mammut-Rucksack, der eh nicht zu meinem Rücken gepasst hat, Abschied zu nehmen und auf ein deutlich schlankeres Modell zu wechseln. So, dann noch den Pickel an den Rucksack und los. Wir sind auf die Seilbrücke gespannt.
Zu unserer Überraschung ist die „Zipline“ bereits einer Behelfsbrücke aus ein paar Kanthölzern mit Seilgeländer gewichen, über die Frau einfach drüber gehen kann, was natürlich deutlich einfacher, aber etwas unspannender ist. Unmittelbar daneben wird fleißig gebaggert, denn wahrscheinlich wird die Behelfsbrücke nicht so bleiben, wie sie jetzt ist. Wir gehen weiter, versuchen, langsamer als sonst zu sein, ich schwitze nicht mal nennenswert, wir können uns ohne Atemnot unterhalten und legen so den ersten Teil des unspektakulären Wanderweges zurück, der in der zweiten Hälfte durch vom Gletscher glatt geschliffene Felsen führt, den Gletscherabfluss überquert, dann steiler und etwas kraxeliger wird, teilweise mit kurzen Seilversicherungen. Die Geländeveränderungen lassen den Aufstieg einigermaßen kurzweilig erscheinen, obwohl der Wiedererkennungswert bei uns wegen der vorangegangenen Versuche ziemlich hoch ist und uns alles recht vertraut vorkommt. Nach ziemlich genau zwei Stunden stehen wir auf der Terrasse des Réfuge de Glacier Blanc und sind eine Stunde vor unserer Verabredung mit Martial da. Es wird kalt als wir uns nicht mehr bewegen, die Sonne ist hinter Wolken verschwunden und ein kalter Wind ist aufgekommen, wir legen uns für die Wartezeit halbwegs trocken, wechseln auf die Berghose und die Bergstiefel, verstauen unsere Zustiegsschuhe im Schuhraum der Hütte, essen und trinken in Ruhe was, bis Martial eintrifft. Er ist ebenfalls vom Tal raufgekommen, er startet mit uns in seine erste Führung auf den Barre für diese Saison. Begrüßung. Martial macht einen sympathischen Eindruck, hat Humor und wirkt jünger als wir es vom Bild vermuteten, dass uns das Bureau de Guides hat zukommen lassen und ein für unsere Zwecke völlig ausreichendes Englisch spricht er auch noch. Eine seiner ersten Fragen an uns ist, wie lange wir gebraucht haben, um die Hütte zu erreichen? Sein Problem ist, dass er nie weiß, welche Menschen er ans Seil nimmt, was sie so draufhaben und welches Risiko er damit für sich selbst eingeht. Stelle ich mir nicht so einfach vor. Mit einer romantischen Vorstellung vom Führen von Gästen in den Bergen hat das wenig zu tun. Wahrheitsgemäß geben wir Auskunft, was ein klein wenig Erleichterung bei ihm auslöst, denn er hatte in der Vergangenheit Gäste, die für den Weg doppelt so lang gebraucht und keine Körner mehr für den Weiterweg zur nächsten Hütte hatten, was in der Folge eine Besteigung irgendeines Muggels natürlich ausschließt, wenn alle überleben wollen. Wir sprechen kurz über unser mitgeführtes Material, von dem wir sehr wahrscheinlich nicht alles brauchen werden, aber immerhin damit umgehen können und ihm fällt auf, dass wir kein Leihmaterial haben, sondern gut gebrauchte Pickel und Steigeisen, was das Gespräch auf unsere bergsteigerische Erfahrung lenkt. Aber das sind alles nur Worte. Ob wir Quatsch erzählen, wird sich zeigen. Als auch er alle seine Sachen zusammen hat und für den Weiterweg hergerichtet ist, gehen wir los in Richtung Écrins-Hütte. Von hier aus sind es nicht mehr so viele Höhenmeter bis dorthin, doch die Wegstrecke ist fast etwas länger und mehr als die Hälfte davon legen wir auf dem Glacier Blanc zurück, dessen Rand wir nach etwa einer dreiviertel Stunde erreichen, Klettergurte und Steigeisen anlegen und anseilen. Auf jeden Fall ist schonmal zu erkennen, dass noch sehr viel mehr Schnee auf dem Gletscher liegt, als wir es von unserem letzten Versuch kannten und was den Weg mal mindestens kürzer werden lässt, weil überhaupt kein Spaltenhopping notwendig ist, das mich persönlich immer ziemlich annervt, wenn man auf so halb blankem Eis die Spalten der Länge nach nach möglichen Übergängen abzusuchen muss, um das Spiel bei der sich sofort anschließenden nächsten Spalte zu wiederholen, zu wiederholen, zu wiederholen, manchmal endlos ohne Landgewinn. Ist aber heute nicht so. Fürs Freuen bleibt bloß keine Zeit, denn mit dem Seil verbunden, an dem Martial vorne weg geht, muss ich die Füße in die Hand nehmen, um nachzukommen, was in der von der Sonne aufgeweichten Spur mit meinen komischen Füßen wirklich schwierig ist. Er gibt richtig Gas und ich beginne zu zweifeln, ob wir mit ihm vielleicht einen überehrgeizigen Bestzeitenjäger erwischt haben, mit dem wir folglich nicht zum Gipfel kommen, weil Astrid und ich vorher an Erschöpfung sterben werden. In der Ferne erkenne ich die Écrins-Hütte hoch oben überm Gletscher auf einem Felsvorsprung. Durchhalten, wir können reden, wenn wir dort sind, was aber noch fast eine Stunde dauert. In der kleinen Bucht unterhalb der Hütte angekommen, stelle ich fest, dass Astrid auch aus der Puste ist, immerhin bin ich nicht alleine unfit, denke ich und Martial fragt mit einem Grinsen im Gesicht, ob das Tempo so gut ist. Ähm, nein, ehrlich gesagt nicht, ein bisschen langsamer würde uns vorm plötzlichen Herztod schützen, denn, wie gesagt, wir sind nicht akklimatisiert. Er rückt mit der Sprache raus, dass er uns getestet hat, denn er muss irgendwie herausfinden, wie belastbar wir sind und wie schnell wir im Zweifel über eine gewisse Distanz durchhalten. Priml. Immerhin haben wir bestanden.
Steigeisen und Seil lassen wir unten am Gletscher, weil wir das für den restlichen Zustieg zur Hütte und am nächsten Morgen runter nicht brauchen, lediglich das Seil packen wir in unseren mitgeführten leichten Packsack, denn es tröpfelt ein wenig. Wir machen uns an den gefährlichen Teil der Tour, die restlichen gut 100 Höhenmeter zur Hütte, die wirklich das Schlimmste sind, was ich an Hüttenzustiegen bisher kenne. Im unteren Teil nehmen wir die neu eingerichtete, aber deswegen nicht weniger schlecht zu gehende Route durch glatt geschliffene Felsen, die teilweise mit neuen Stahlseilen ausgestattet ist und später auf einen schmalen Pfad durch die uns schon bekannte Schutthalde übergeht, die man früher von ganz unten hochkam. Unten steht allerdings inzwischen ein Schild, dass die alte Route durch die Schutthalde wegen des Steinschlags zu gefährlich ist. Kurz vor der Hütte kommt noch ein steiles Altschneefeld und dann ist’s für heute erstmal geschafft. Ich bin einigermaßen platt und meinem linken Huf reicht’s ebenfalls.
Martial meldet uns an der Hütte an, die Plätze sind bereits vom Bureau de Guides gebucht worden und Martial ist beim Personal offensichtlich gut bekannt, wir sollen alle Bestellungen auf seinen Namen schreiben lassen, und dann gibt er uns noch das Lager und die uns zugeteilten Schlafplätze darin an. Die Hütte ist bis zum letzten Platz voll. Hat sich wohl herumgesprochen, dass die Bedingungen und das Wetter für den morgigen Tag vom Feinsten sind. Im Lager angekommen, freue ich mich darüber, dass die mit den Corona-Maßnahmen eingeführten Abtrennungen, die wir schon vom letzten Mal kannten, immer noch eingebaut sind, was uns auf unseren zugewiesenen Plätzen in der unteren Etage etwas Privatsphäre ermöglicht. Ich erinnere mich noch an das erste Mal als wir hier gewesen sind und Astrids Nachbar ihr in der Nacht immer weiter auf die Pelle gerückt ist. Das braucht wirklich niemand. Wir legen uns trocken, richten das Bettchen her und versuchen, irgendwie unsere nassen Sachen auf wenig Platz so auszubreiten, dass sie eine Chance zum Trocknen haben. Dann gönnen wir uns ein kleines Bier, für das wir fast einen kleinen Bausparer kündigen mussten. Ein zweites gibt’s nicht. Martial hat sich derweil zur Ruhe bis zum Abendessen verabschiedet und auch wir hauen uns noch ein wenig hin vor dem Essen, denn die nächste Nacht wird, wie üblich, eine Katastrophe werden und jede Minute Ausruhen zählt. Unmittelbar vor dem Abendessen finden wir uns alle im Speisesaal ein, es gibt ein Briefing vom Hüttenpersonal, ich vermute, vom Hüttenwart selbst, zu den Bedingungen am Barre und den umliegenden Zielen sowie dem Wetter. Leider alles auf französisch und nicht, wie beim letzten Mal, für jene, die die Sprache nicht genug verstehen, zusätzlich auf englisch. Jedenfalls hab‘ ich fast nix verstanden. Erst als er über das folgende Menü referiert, geht’s mit meinen Kenntnissen der Sprache etwas besser, ist aber für unser Vorhaben nicht relevant. Das kredenzte Futter ist für eine so hoch gelegene Hütte ganz passabel, wenn Frau bedenkt, dass wirklich jedes kleinste Fitzel mit dem Hubschrauber rangeschafft werden muss, die Vorräte immer begrenzt sind und ich es mir nicht so einfach vorstelle, alle Eventualitäten von einer Lieferung zur nächsten abzusehen. Aktuell hatten wir zum Beispiel die Situation, dass das anhaltend gute Wetter über einen relativ langen Zeitraum täglich für eine volle Hütte sorgte und wie sich beim Frühstück zeigte, alles knapp wird. Als der Magen voll ist, besprechen wir mit Martial noch den Start des nächsten Tages, was bedeutet, ab 3 Uhr morgens gibt’s Frühstück, aufstehen ist demnach um 2:45 Uhr, damit wir im Lager mit Einpacken und allem nötigen fertig werden bevor es in den Speisesaal geht und wir unmittelbar nach dem Frühstück losgehen können, denn so gut wie alle Seilschaften haben das gleiche Ziel und es lohnt sich, möglichst weit vorne zu sein. Die letzte Aktion für heute ist bezahlen. Noch ein Punkt, bei dem wir darüber nachdenken sollten, häufiger in Frankreich bergsteigen zu gehen, denn im Vergleich zu Schweizer Preisen ist die Écrins-Hütte nahezu billig. Die Halbpension, d.h. Abendessen, Übernachtung, Frühstück zuzüglich Getränke für wenig mehr als 50 Euro, der Bergführer zahlt nichts für die Übernachtung, macht für drei so viel, wie auf einigen Schweizer Hütten für einen Menschen, bei gleichen Leistungen. Bergsteigen war schon in den Pioniertagen eher etwas für die privilegierte Gesellschaft.
Wie soll’s auch anders sein, kaum liegen wir in unserer Schlafzelle, beginnt der erste schon zu schnarchen. Ist irgendwie auch jedes Mal das gleiche. Wenigstens geht’s nicht die ganze Nacht so, aber schlafen kann ich trotzdem nicht, liege bis auf wenige Minuten komplett wach bis um 2:45 Uhr meine Uhr zum Wecken quiekt. An jenem Morgen gibt Astrid’s Garmin die allergeilste Trainingsempfehlung ab: „Astrid solle sich noch mindestens 15 Stunden vom Hüttenzustieg am Vortag erholen.“. Tja, Garmin, nein. Es geht raus und es wird anstrengend, aber so richtig.
Wer denkt, der Aufstieg vom Gletscher hinauf zur Écrins-Hütte sei gefährlich, der wird morgens um 3:30 Uhr im Dunkeln überrascht sein, wie gut es geht, wenn Frau nicht den präparierten „Steig“ nimmt, sondern den alten Weg über die Schuttrinne, von der Martial schon auf dem Weg rauf sagte, dass wir sie morgens nehmen werden, weil sie runter besser geht als der glatte Fels und er behält recht. Unten angekommen, packen wir das Seil aus unserem Sackerl aus und die Sachen für die Hüttenübernachtung rein, denn die brauchen wir am Berg nicht, können sie später wieder mitnehmen, ohne auf die Hütte rauf zu müssen, wenn wir sie einfach zwischen den Felsen parken, so, wie wir das beim letzten Mal auch gemacht haben. Auf diese Weise haben wir das leichtest mögliche Gepäck für den Gipfeltag. Steigeisen an die Schuhe und Seil zwischen uns geklöppelt starten wir im Dunkeln auf dem Gletscher, der Schnee ist soweit abgekühlt, dass die Schritte mit den Steigeisen ein wenig knarzen, ein Geräusch, auf das ich mich jedes Mal freue, denn es bedeutet Abenteuer von dem nicht vorher klar ist, wie es ausgeht, alles hängt vom eigenen Handeln ab. Die Temperaturen sind natürlich etwas zu hoch, es gibt aber keinen Niederschlag und nur wenig Wind. Viel angenehmer als beim letzten Mal. Pferdefuß: Martial legt schon wieder ein ganz ordentliches Tempo vor. Nicht ganz so zach, wie tags zuvor, aber dennoch so, dass er beginnt, andere Seilschaften neben der Spur zu überholen, was für meinen Huf schon wieder ziemlich schwierig ist, da ein gerades Aufsetzen der Eisen nicht möglich ist. Astrids Quatschi, erzählt sie mir später, stellte die Frage: „ boahh, muss das sein, die gehen so schön langsam.“
Doch wir ziehen durch, überwinden die endlos scheinende Strecke von der Hütte bis an den Beginn des eigentlichen Anstiegs durch die Nordflanke, bei der nur wenige Höhenmeter gewonnen werden. Bevor es richtig steil wird, gibt’s ne kleine Pause, die ich nutze, um mir neben essen, trinken und Salztabletten, auf die rechte Ferse präventiv ein Blasenpflaster zu kleben. Morgens dachte ich noch, dass es so gehen wird, doch im unebenen Gelände bei der Geschwindigkeit gibt’s schneller Blasen als Frau Aua sagen kann. Druff damit.
Mit der Dämmerung beginnt das Bergsteigen auf etwa 3300m. Martial wählt den Aufstieg nah am Rand des ersten Eislochs, der zwar am wenigstens weit in die Eisschlagzone über uns reicht, gleichzeitig aber auch mit geschätzten 45° am steilsten ist und die Spur ist von den Absteigenden des Vortags in einem nicht sehr hilfreichen Zustand. Stufen? Fehlanzeige. Frontalzacken und Waden müssen ausgleichen. Mir läuft die Soße fast in Fäden aus dem Gesicht, ich schwitze fürchterlich am Kopf, was sich sehr bald rächen wird, doch im Moment bin ich um jeden Schritt froh, den es hinauf geht, Astrid und ich packen zwischendurch den Pickel aus, denn mit Stöcken alleine wird uns das zu heiß. Endlose Minuten, ein Minischritt nach dem anderen quälen wir uns rauf bis die Spur sich endlich ein wenig nach hinten neigt. Es sind nur noch 35°, dafür gibt’s gigantische Spalten, die größtenteils noch überdeckt sind, was es jedoch deutlich gefährlicher macht, auch wenn eine scheinbar gute Spur darüber vorhanden ist. Im Aufstieg in der Nacht und bei Kälte geht das noch, doch in meinem Kopf spielen sich bereits Dramen beim Abstieg im aufgeweichten Schnee ab. Ich schiebe diese Gedanken beiseite, die kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. Zwischenzeitlich ist es so hell geworden, dass ich die Stirnlampe ausschalten kann, bevor es in die grandiose Spur geht, die wir von der Hütte aus schon gesehen haben und die aus dem unteren Teil der Flanke heraus direttissima bis fast hinauf zum Bergschrund am Gipfelaufbau reicht und selbstredend nicht flach ist. 40° steil und etwa 400 Höhenmeter hoch bis die Spur nach rechts abbiegt und mehr oder weniger flach am Bergschrund entlang in Richtung Dôme de Neige führt. Vor zwei Jahren sind wir in diesem Bereich durch und über die größten Spalten gestiegen, unter Seracs hindurch und über Schneebrücken, die den Namen nicht verdient hatten. Heute war davon nix zu sehen, es liegt noch reichlich Schnee. Immerhin. Die Quälerei geht weiter, einen der Stöcke haben wir in dem flacheren Teil in den Rucksack gepackt, damit wir nicht mit zwei Stöcken in einer und dem Pickel in der anderen Hand rumwurschteln müssen, denn immer wieder müssen die Seiten getauscht werden, weil der Pickel nur bergseits etwas nutz, wenn blöde Sachen passieren. Ich habe aufgehört zu schwitzen, ein schlechtes Zeichen, aber noch bemerke ich nichts, außer dass ich an meiner Anstrengungsgrenze entlang kratze und ich erleichtert bin, als wir nach rechts abbiegen, es flacher wird, und sogar mal ein kleines Stück wieder nach unten führt. Wir nähern uns der Stelle unter der Brèche Lory, wo der Bergschrund überwunden werden kann, legen kurz davor aber erstmal eine kleine Pause ein. Ich muss essen und trinken, der Mineralstoffverlust und die Austrocknung durch das Atmen mit offenem Mund sind enorm. Doch ich merke auch, dass die kurze Pause tatsächlich Erholung bringt, lässt die Belastung nach, regelt auch der Körper herunter, was er bei untrainierten Menschen in dieser Höhe eher nicht machen würde. Wir sind auf etwa 3900m, lassen nun die Stöcke neben der Spur im Schnee stecken, die brauchen wir für den weiteren Weg nicht mehr und gehen weiter über die Spalte am Bergschrung steil in die signifikante Scharte am Beginn der Gratkletterei, der Brèche Lory. Vor uns ist die 4er Seilschaft aus Österreich zugange, die sich für die Kletterei in zwei 2er Seilschaften aufgeteilt haben und von denen ich eigentlich annahm, dass sie uns davonrennen müssten. Alle sind mindestens 20 Jahre jünger als wir, machen einen sportlichen Eindruck und scheinen zu wissen, was sie tun. Sie nehmen alle aus der Scharte den Weg nah an dem Felseinstieg entlang, der zwar die einzige Sicherungsmöglichkeit bietet, gleichzeitig aber auch aus steilem exponiertem Eis besteht, wo keine Fehler erlaubt sind, bis der Einstieg in die trockenen Felsen erreicht ist. Martial schaut sich das kurz an und entscheidet, dass wir uns hier anders verhalten und beginnt damit, eine schräg auf den Klettereinstieg führende Spur in den steilen Schnee zu treten, braucht dann nur noch 1-2 Schritte im blanken Eis bis zu den Felsen, wo er uns nachsichern kann und als das Seil aus ist, folgen wir auf seinen Spuren einigermaßen sicher in die Felsen. Mein Herzl klopft trotzdem, denn wenn hier was schief geht, hängt Frau im besten Fall nach einem riesigen Pendler am Seil überm Bergschrund. Kopf aus, Konzentration aufs Tun. Nicht denken. Diese Exponiertheit wird uns die nächsten zwei Stunden am Grat permanent begleiten. Nachdem wir alle den Einstieg in die Gratkletterei erreicht und hinter uns gelassen haben, queren wir zunächst noch ein paar Meter zu einer Stelle, an der wir unsere Steigeisen und die Pickel deponieren können, gleich hinter der unteren Abseilstelle, die wir später noch brauchen, denn der Grat ist schneefrei und trocken, Hilfsmittel sind keine nötig. Die meisten anderen Seilschaften, klettern von hier aus erst hoch auf den Grat, doch das ist eigentlich nicht notwendig. Nun kommt der Punkt, an dem wir 2018 gescheitert sind, wir klettern in der Seilschaft zu dritt am laufenden Seil, legen jenes wo möglich hinter Felszacken oder Einschnitte, damit es niemals ganz frei zwischen uns hängt, womit zumindest der Seilschaftsabsturz verhindert werden kann, wir aber trotzdem einigermaßen zügig vorankommen, was der Fall ist, denn die anderen Seilschaften um uns herum sind nicht schneller, auch die Österreicher nicht. Das Klettern macht Spaß, der Fels ist meistens fest, es gibt nur wenig Brösel, aber leider komme ich sehr schnell in ein Dilemma als ich immer wieder Mal hoch antreten muss, um weiterklettern zu können. Die altbekannten Krämpfe in den Innenseiten meiner Oberschenkel überrollen mich mit heftigen Schmerzen, erst das eine Bein, dann bald darauf auch das andere. Scheißendreck. Sonst habe ich das eher auf dem Abstieg im steilen Schnee, doch der kräfteraubende Aufstieg kommt mit der Quittung um die Ecke. Wir müssen stoppen, ich beginne damit, meine Beine zu massieren und zu dehnen, so gut es im steilen Gelände geht, trinke und esse und bald macht sich die Sorge breit, dass ich so nicht weitergehen kann und ehrlich gesagt, ich auch mit dem Abstieg ein Problem haben werde. Erst macht sich Verzweiflung breit, dann Wut, ich massiere mir blaue Flecken in die Beine, diese Bergfahrt wird nicht mit dem Hubschrauber enden, schwöre ich mir. Ich komme mir wieder mal wie eine Bremse vor, wegen mir soll dieser Versuch schon wieder enden, ich fühle mich schlecht. Astrid meldet sich, ist besorgt und versucht mich, von dem Negativtripp runterzubekommen. Wenn wir umdrehen müssen, ist das eben so. Der Berg ist es nicht wert, seine Gesundheit zu riskieren. Plötzlich habe ich noch eine andere Stimme im Kopf. Jojo meldet sich. Die liebe Fluglehrerin aus unserem XC Frauenpower Camp. Streckenfliegen wollen hat etwas mit Geduld zu tun, damit, nicht zu früh aufzugeben, auch wenn vielleicht grad kein Steigen zu finden ist, es braucht Entschlossenheit und einen Plan B. Gib nicht auf, glaube daran und vertraue darauf, dass deine Maßnahmen helfen werden, die Krämpfe zu beenden. Ich spüre, wie das schmerzhafte Ziehen sich beruhigt und kurz drauf ganz verschwindet. Etwas überrascht signalisiere ich, dass wir langsam weiterklettern können, versuche meine Beine möglichst nicht zu beugen, was sicherlich ein wenig bescheuert aussieht, mit ausgefahrenen Stelzen in den Felsen rumzueiern, doch es geht tatsächlich, die Kletterei ist nicht schwierig, wird weiter oben immer leichter und bietet reichlich Möglichkeiten, trotzdem voranzukommen.
Zwischenzeitlich trifft Astrid exakt den einzigen Knieschnackler auf dem Weg zum Gipfel, die Kniescheibe springt kurz raus und wieder rein, ein paar Sterne vor Augen und ein blauer Fleck ist garantiert. Martial hat sich die Stelle genau gemerkt, denn er erinnert sie auf dem Rückweg daran, dort auf ihre Knie aufzupassen.
Einmal müssen wir noch kurz stoppen, damit ich nachmassieren kann, doch es geht bis zum Gipfel weiter, den wir nach insgesamt etwa 4:15 Stunden und 1130 Höhenmeter Anstieg erreichen, was unter diesen Umständen eine supergute Zeit ist. Kurz vor uns sind die Österreicher dort angekommen und außer uns 7 ist sonst niemand da, was bei der Menge an Seilschaften fast verwunderlich ist, wobei die meisten sich mit dem Dôme de Neige zufriedengeben, den Frau ohne exponierte Kletterei erreichen kann, so wie wir beide das beim ersten Versuch 2014 auch gemacht hatten. Den ganzen Gipfeltag sind wir übrigens von den 4 fitten Jungs aus Österreich umzingelt, von denen ich annahm, dass wir sie nur einmal sehen würden, doch egal, wo wir hingekommen sind, auf dem Rauf- und Runterweg, waren sie auch da. Witzig. Sagt mir, dass wir zwei alten Truten gar nicht so schlecht drauf sind.
Ich bin happy, hatte zwischendurch ernsthafte Sorgen, dass meine körperlichen Unzulänglichkeiten diesen vierten und letzten Versuch schon wieder vereiteln, doch es hat sich ausgezahlt, die Flinte nicht zu früh ins Korn zu werfen. Natürlich liegt noch der Abstieg vor uns und meine Probleme sind nicht weg, das ist klar, aber darüber versuche ich in diesem Moment nicht nachzudenken. Martial macht uns darauf aufmerksam, dass Frau vom Gipfel aus alle Zwischenstopps sehen kann, von Pré de Madame Carle über das Réfuge de Glacier Blanc bis zum Réfuge des Écrins. Bedeutet im Umkehrschluss auch, dass Frau von allen Punkten unterwegs aus den Gipfel sehen kann, wenn sie weiß, wonach sie schauen muss. Nur das Mittelmeer sehen wir nicht und auch die anderen Berge nicht, wie der Mont Blanc, das Matterhorn, den Gran Paradiso, denn es liegt eine Inversion flächig in der Umgebung auf etwa unserer Höhe, die alles in etwas diffuses Licht taucht und alles in der weiteren Umgebung verschluckt.
Gipfelfoto für die Österreicher, Gipfelfoto für Astrid, Manni und mich, ja Manni ist selbstredend dabei, dann noch eines mit Martial und uns drauf. Er war wirklich sehr geduldig mit mir. An anderen Bergen mit extrem kommerzialisierten Führern wäre das so nicht gelaufen. Die drehen bei der kleinsten Kleinigkeit um. Martial hingegen ist entspannt, es gibt keine Zeitnot, wir sind früh genug dran, dass die objektiven Risiken sich in den nächsten 2-3 Stunden nicht signifikant ändern werden. Kurz nach den Österreichern brechen wir dann aber ebenfalls auf und machen uns an den Abstieg.
Wo wir raufgeklettert sind, müssen wir auch wieder runter und runterklettern dauert genau so lange, wie raufklettern an diesem scheinbar endlosen Grat. Ich klettere voraus, hinter mir folgt Astrid und Martial behält uns als Schlusslicht dabei permanent im Auge. Kurz bevor wir unser Steigeisendepot erreichen, passiert noch was Blödes, was wahrscheinlich mies für uns ausgegangen wäre, wenn wir ohne Bergführer unterwegs gewesen wären. Ich sehe schon die Abseilstelle, das Gelände ist steiler und bröseliger geworden. Astrid ist nur 3-4 Meter hinter mir am Seil, Martial geht etwas oberhalb von uns und hat das Seil zwischen sich und Astrid in Schlingen in der Hand. Im Gegensatz zum gesamten anderen Gratteil muss Frau hier wirklich auf lose Griffe und Tritte Acht geben. Plötzlich hinter mir ein kurzer Aufschrei, Astrid hat links einen guten Griff, rechts nur was Kleines für die Fingerkuppen damit sie nicht nach hinten kippt, sie hat ihren linken Fuß auf einer herausragenden Felszacke stehen, die sie vorher noch geprüft hat, und gerade als sie ihren rechten Fuß auf den nächsten Tritt umsetzen will, bricht die Felszacke unter ihrem linken Fuß aus. Nur noch an der linken Hand hängend, Füße und rechte Hand in der Luft, ist sofort von oben Zug auf dem Seil. Martial hat in Bruchteilen von Sekunden reagiert und hält sie frei stehend mit den Schlingen in der Hand am gespannten Seil, während Astrids linke Hüfte schlagartig Bekanntschaft mit dem Fels macht. Astrid und ich alleine wären in dieser Situation ziemlich sicher beide aus der Wand gefallen und entweder im darunterliegenden Bergschrund verschwunden oder die Nordflanke 700 Höhenmeter runtergesegelt. Gleichzeitig nahmen wir allerdings auch an, dass wir möglicherweise diese Passage nicht ohne festen Punkt, also ohne gegenseitige Sicherung gegangen wären, wenn wir keinen Bergführer gehabt hätten. Wir werden es nicht erfahren, doch der Gedanke allein an das, was in einer zehntel Sekunde hätte passieren können, treibt uns beiden Gänsehaut über den Körper und lässt das Bewusstsein wachsen, welchen Risiken wir uns bei sowas aussetzen. Herzklopfen. Es ist nochmal alles gut gegangen, bis auf die Einschlagstelle an Astrids Oberschenkel. Die wird ihr die nächsten Wochen viel Freude bereiten. Als das halbwegs verdaut ist und ein paar Tränchen raus sind, packen wir unsere Steigeisen auf die Rucksäcke und erreichen nach wenigen Schritten die Abseilstelle, von der aus Martial uns am Seil bis über den Schrund auf die darunterliegende Spur herunterlassen wird, was uns den Zirkus mit dem Abklettern des steilen Übergangs über die Randkluft, die wir auf dem Weg hinauf überwinden mussten, erspart. Ich steige an der Abseilstelle vorbei, hänge eine Selbstsicherung ein, Astrid tut es mir nach Abstimmung mit Martial, wo für ihn der beste Platz zum Ablassen ist, gleich und ich glaube, dass er ein klitzekleines Bisschen beeindruckt ist, wie wir uns so organisieren, denn er kann nicht davon ausgehen, dass seine Gäste immer mitdenken. Wir schon, weil wir das nicht zum ersten Mal machen. Dadurch, dass Astrid und ich uns selbständig gesichert haben, kann Martial nun mit dem Seil frei hantieren, bis er es so hat, wie er es braucht, um uns beide nacheinander am Einzelstrang und sich selbst im Anschluss im Doppelstrang abzuseilen. Eine lustige Fahrt beginnt, Astrid lehnt sich als erste nach hinten aus der Wand über die Nordflanke als Martial soweit ist und wird abgelassen, erst über Felsen, dann kommt ein kleines Schneeband und dann der Schrund, über dem Frau frei hängt, wenn sie die obere Kante passiert hat. Was von oben ewig weit aussieht, ich hatte tatsächlich kurz Zweifel, ob das Seil lang genug ist, stellt sich im Prinzip als kleiner Hüpfer von wahrscheinlich nicht mal 20 Metern heraus, bis Astrid wieder im festen Schnee neben der Spur steht. Sie bleibt am Seil, Martial nimmt mein Ende in die Sicherung, ich hänge meine eigene Sicherung aus und ab geht’s nach unten. Es kostet etwas Überwindung, doch es geht am Einfachsten, wenn Frau sich wirklich weit nach hinten, fast waagerecht, ins Seil legt und mit den Füßen gegen die Wand stellt. Über der Randkluft zu hängen ist ziemlich spooky, ehrlich gesagt, aber es dauert nur wenige Sekunden, bis auch ich wieder Boden unter den Füßen hab‘ und Martial an beiden Strängen nachkommt. Wir sind ziemlich genau dort gelandet, wo wir unsere Stöcke zurückgelassen hatten und nach Rücksprache mit Martial legen wir eine Pause ein, setzen uns kurz hin, denn ich muss mich um meine Krämpfe kümmern, das heißt ausreichend essen und trinken, nochmal ordentlich massieren, dehnen und ausschütteln, bevor es in die supersteile Spur nach unten geht, in der sich meine Haxn ganz sicher wieder melden werden.
Es ist warm geworden, wir müssen was ausziehen, noch ein wenig nachcremen, Stock und Stirnlampe im Rucksack verstauen, dann starten wir den Rückweg durch den steilen Schnee. Das parallele Stück zum Schrund geht noch ganz gut, doch als wir senkrecht nach unten abbiegen, ist mir klar, dass das ein schwieriges Unterfangen wird. Ich bin wieder vorne, muss mich bei jedem Schritt auf Stock oder Pickel stützen, weil mein linker Fuß mit seinen abgerissenen Bändern leicht nach außen kippt, wenn ich unachtsam bin und ich glaube nicht, dass das gut ist, wenn’s zu oft passiert. Also Konzentration. Die bremst natürlich enorm, doch alles andere hilft nicht. Immerhin geht es runterwärts schon ein klein wenig schneller als rauf und auch wenn es äußerst mühselig ist, kommen wir dem unteren Ende irgendwann näher, bis wir dann endlich den etwas flacheren mittleren Teil erreichen, wo wir um ein, zwei große Spalten drum herum müssen. Meine Beine melden sich wieder, krampfen und brauchen Aufmerksamkeit. Dieses Mal dauert es länger bis das schmerzhafte Ziehen abflaut, aber wenigstens flaut es ab. Das Damoklesschwert, einen Hubschrauber zu benötigen, schwebt immer noch über mir, mehrere 100 Höhenmeter mit mindestens zwei steilen Absätzen möchten noch abgestiegen werden, bis wir den flachen Gletscher erreichen und ich kämpfe um jeden Meter als wir weitergehen können, Schritt für Schritt. Währenddessen werden wir von mehreren Seilschaften überholt und bei einer mischt sich Martial ein. Eine Frau und ein Mann, sie geht vorne, zwischen sich kaum mehr als 2-3 Meter Seil, was eindeutig zu wenig ist, wenn eine Schneebrücke nachgibt, gerade, wenn man nur zu zweit unterwegs ist. Der Mann antwortet Martial und auch wenn ich nicht alles verstehe, ist klar, dass er der Oberschlauberger ist, die Gefahr herunterspielt und sie sich nicht genötigt sehen, etwas an ihrem Setup zu verändern. Schade, mich hätte ihre Meinung mal interessiert. Wir sprechen mit Martial später darüber, denn wir wollen es etwas genauer wissen und es ist so, wie wir uns das dachten. Er in seiner Rolle als Bergführer konnte nicht anders als wenigstens darauf hinzuweisen, dass es nicht klug ist, so durch den inzwischen butterweichen Schnee zu gehen. Er musste etwas sagen, auch wenn es nicht bei den Menschen ankommt, aber für sein Gewissen war es notwendig. Astrid und ich haben solche Situationen in der Vergangenheit ebenfalls schon erlebt, ersparten sogar einigen Menschen den Hubschrauberflug, siehe Olpererüberschreitung, doch es ist nicht einfach, wenn ein Verbesserungsvorschlag, der Leben retten kann, nicht angenommen wird.
So, der letzte und steilste Absatz liegt noch vor uns, ich beiße die Zähne zusammen, wir werden irgendwie unten ankommen, doch Martial hat da eine andere Idee, wie wir das etwas abkürzen können. Er schlägt vor, auf dem Popo hinunter zu rutschen. Wir sollen uns einfach hinsetzen und rutschen lassen, er hält uns dann schon. Ich zögere, doch ich habe das schonmal gemacht. An der Wildspitze das steile Stück unterm Klettersteig zum Mitterkarjoch. Also gut, wir setzen uns in den weichen Schnee und kaum haben die glatten Superklamotten Kontakt, Füße hoch damit mit den Steigeisen nix Blödes passiert und die Fahrt geht von alleine los. Es wird richtig schnell, ich drücke meinen Pickel mit der Haue neben mir in den Schnee, um ein wenig Kontrolle zu haben, weil ich auch ständig durch den Seilzug in eine Schräglage gezwungen werde, doch es läuft tatsächlich supergut und schont meine geplagten Beine und Füße. Als es etwas flacher wird und von alleine nicht mehr so schnell rutscht, ruft Martial, wir sollen sitzen bleiben, während er nach vorne rennt und uns weiter den Hang hinunterzieht. Voll witzig. Zack, 70-80 Höhenmeter in 20 Sekunden. Natürlich sind wir nun alle klatschnass vom tauenden Schnee, der sich bis in die Unterhose gewurschtelt hat, aber das macht überhaupt nix. Am Fuß der Flanke auf etwa 3300m angekommen brennt die Sonne heiß vom Himmel, da kommt so eine Kühlung gerade recht. Ein paar hundert Meter gehen wir dann noch in der Spur aus der Eisfallzone heraus und machen nochmal kurz Pause, der Pickel kann weg, er wird durch den zweiten Stock ersetzt, was auf dem flachen Teil des Gletschers besser ist, um zügig voranzukommen, was Martial, der wieder vorne ist, auch tut. Gefühlt fast im Laufschritt machen wir uns auf den Weg zum Depot, wo unsere Übernachtungsutensilien auf uns warten, die Strecke von etwa 3,5km zieht sich endlos hin, die Hütte, die von weitem zu sehen ist, kommt und kommt einfach nicht näher und ich habe wirklich gut zu tun, um auf meinen Füßen zu bleiben. Ich lerne später, dass Martial Druck in den Socken hat, weil er später an der Glacier Blanc Hütte bereits die nächsten Gäste abholen soll, weswegen wir am Depot als wir endlich ankommen und ich mich auf eine kleine Erholung freue, dann auch nur so kurz stoppen, bis unser Zeug wieder im Rucksack ist und wir sofort weiterrennen. Puuhhh…. Wenigstens machen meine Beine mit, allerdings melden sich jetzt meine Fußgelenke immer häufiger mit Krämpfen, sobald ich aus dem Tritt komme oder schieftrete, was auf dem weichen, unebenen Untergrund ständig vorkommt. Aber auch dieser Teil geht zu ende, als wir den Gletscherrand und die Stelle erreichen, wo wir das Seil nicht mehr brauchen. Ab hier signalisieren wir Martial, brauchen wir ihn nicht mehr, er kann sich zur Hütte sputen, wir sehen uns dann dort zur Verabschiedung. Und hier können endlich die Steigeisen von den Füßen. So witzig es anfangs ist, mit den Dingern übers Eis zu gehen, so anstrengend, schmerzhaft und nervig wird es, wenn der Weg nur lang genug ist. Wir folgen Martial noch ein kleines Stück, dann rennt er uns davon und wir fallen in unser eigenes Tempo zurück, was völlig in Ordnung ist. Alle Schwierigkeiten liegen hinter uns, jetzt müssen wir erstmal nur noch bis zur Hütte kommen, wo es zu Mittag lecker Pasta Ragôut und ne kalte Cola gibt, auf die ich mich schon seit zwei Stunden freue. Dort angekommen laden wir Martial auf einen Teller Nudeln und ne Cola ein, denn abgesehen vom letzten Stück hat er einen wirklich guten Job gemacht, war stets supernett, hilfsbereit und geduldig und hat sich kein einziges Mal im Pronomen vergriffen. Wir futtern gemeinsam in der Sonne, quatschen noch ein wenig und als seine nächste Gruppe eintrifft, die er am nächsten Tag auf den Dôme de Neige führen soll, geht für ihn das Geschäft weiter und für uns der Abstieg. Knapp 1600 Höhenmeter haben wir schon, 850 liegen noch vor uns, für die wir wieder auf unsere Trailrunningschuhe wechseln und ins kurze Sportröckchen springen, denn mit jedem Meter runter wird es heißer und der Rucksack hat nun fast wieder Startgewicht nachdem die Trinkflaschen nachgefüllt sind.
Die letzte Etappe. Zeit spielt keine Rolle, es ist ok, wenn wir im Schneckentempo den Berg runterkrabbeln, was mit den leichten Schuhen ein bisschen angenehmer ist als mit den Bergstiefeln, gleichzeitig fordern sie die Füße mehr, gerade mit einem schweren Rucksack, da viel weicher und nicht kantenstabil. Ein Aspekt, den es zu berücksichtigen gilt, denn nach nun fast 10 Stunden auf den Beinen lässt die Konzentration und Koordination nach und der erste Teil ist, wie am Anfang schon geschrieben, ein bisschen kraxeliger und wechselt erst ab etwa der Hälfte auf einen einfachen Wanderweg, über den ich froh bin, als er endlich beginnt. Die Muskeln brennen, die Fußsohlen sind müde, der Kopf ist müde, der ganze Körper wehrt sich gefühlt gegen jede weitere Anstrengung. Aus der Vergangenheit wissen wir jedoch, dass wir noch lange von „es geht nichts mehr“ entfernt sind, denn diese Dinge spielen sich alle nur im Kopf ab. Einfach gleichmäßig weitergehen. Die Behelfsbrücke kommt in Sicht, die inzwischen an den ursprünglichen Platz der weggespülten Brücke verlegt wurde, danach sind es flach nur noch 10 Minuten bis zum Auto. Nach etwa zwei weiteren Stunden ab der Glacier Blanc Hütte sind wir zurück am Parkplatz, fallen uns erschöpft in die Arme und sind ein klein wenig stolz drauf, diesen Gipfel tatsächlich endlich erreicht zu haben. Erst jetzt ist diese Bergtour wirklich zu ende. Ich muss mich kurz hinsetzen, meine Füße rebellieren beim Rumstehen, Rucksack runter, Trinkflasche leertrinken, ich brauche ein paar Minuten, bis ich mich aufraffen kann, die Klamotten zu wechseln, alles klebt, ist nass oder tut weh.
Um den Komfort einer Dusche genießen zu können, beschließen wir, uns in Ailefroide im Sherpa-Market nur mit den notwendigen Futteralien einzudecken, dort aber nicht, wie anfangs überlegt, auf den Camper-Stellplatz zu gehen, weil dort die Sanitärräume ewig weit weg sind, sondern wieder bis runter ins Tal auf unseren ersten Campingplatz zu fahren, wo wir vor der Heimreise auch unseren Ballast entsorgen können. Außerdem können wir uns dort fürs Frühstück wieder das wohlverdiente Pain au Chocolat bestellen.
Was mir an dem Campingplatz übrigens ebenfalls sehr gut gefällt, es gibt keine nach Geschlechtern getrennten Sanitärräume. Das ist nahezu revolutionär, weil keine Fragen offen sind, wo sich die Menschen nun einordnen, um aufs Klo oder zum Duschen zu gehen. Es gibt neben Dusch- und WC-Kabinen auch eine Hand voll abschließbare Waschkabinen, wenn Privatsphäre notwendig ist und mehr braucht niemand. Es könnte so einfach sein. Solange wir jedoch dem aufgezwungenen, inzwischen wieder faschistisch angehauchten Patriarchat unterliegen, wird es so einen Fortschritt nicht flächig geben, sondern nur künstlich geschaffene und jeglicher Grundlage entbehrende Feindbilder. Jede Ameise ist in dieser Hinsicht weiterentwickelt als die meisten Menschen.
Zurück zu den wichtigen Dingen. Am Campingplatz angekommen, nehmen wir fast den gleichen Stellplatz wie zuvor, melden uns an, bestellen Leckereien fürs Frühstück, schaffen uns, so lange wir noch können, in die Dusche, machen auf dem Zahnfleisch Abendessen und als das Gipfelbier drin ist, gehen die Lichter aus. Schlafen ist schön, allerdings graut es mir vor dem nächsten Morgen, denn diese Aktion wird ordentliche Spuren hinterlassen und so ist’s dann auch. Schon in der ersten Nacht schmerzt alles so, dass jede kleinste Bewegung den Schlaf beendet. Mein linker Fuß ist so dick geschwollen, dass die Zehen den Boden nicht mehr berühren, wenn ich versuche, aufzutreten. Die Geister, die ich rief. Aufstehen am Morgen ist eine Herausforderung, denn wir müssen aus dem Alkoven krabbeln, erst aufs Sitzpolster, dann auf den Boden steigen. Digga. Schmerzen aus der Hölle. Der Muskelkater breitet sich von den Finger- bis zu den Zehenspitzen aus, die Beine pochen, Schultern, Arme, Rücken, Bauch, nichts bleibt verschont, selbst einfach nur die Waden irgendwo auflegen verursacht Pein. An diesem Morgen geht alles ein bisschen langsamer, doch es hilft nix, wir wollen in Richtung Heimat aufbrechen, eine lange Fahrt sitzend steht uns bevor, etwaige andere Aktivitäten auf dem Weg, wie Fliegen, haben sich erledigt. Das Ziel für die kommende Nacht ist ein kleiner Parkplatz oben auf dem San Bernardino Pass, wo ich tatsächlich noch nie gewesen bin, denn bisher führte unsere Route immer durch den Tunnel. Vom Campingplatz aus geht’s über Briançon in Richtung Turin über die italienische Grenze auf den wohl teuersten Feldweg auf diesem Planeten, der italienischen Autobahn. Einmal 100 km in Italien kosten soviel, wie ein ganzes Jahr auf beliebigen Schweizer Straßen, Brücken und Tunneln. Von Turin nach Mailand geht es einigermaßen mit der Straße, ab Mailand nach Chiasso braucht Frau wieder einen Geländewagen. Im Gegensatz zu Frankreich funktioniert immerhin unsere Bip&Go Box einwandfrei, wir müssen nirgendwo stehenbleiben. Wir rollen durchs schöne Tessin an Bellinzona vorbei, die Straßen sind überraschend leer, ich hatte was anderes erwartet, wenn wir an einem Samstag solch stark frequentierte Straßen in der in Deutschland beginnenden Ferienzeit nehmen. Der Abzweig von der A13 auf die Passstraße kommt vorbei, ich biege ein und folge der steilen Serpentine bis auf über 2000m, wo wir in der Nähe eines kleinen Sees zum Übernachten anhalten. Die Sonne scheint, doch es weht ein rechter Wind, es ist kalt, aber die Gelegenheit, an einem See auf dem Passo San Bernardino Handpan zu spielen, lasse ich mir nicht entgehen. Ein Traum. Meine Seele fließt. Klingt ein bisschen esoterisch, so bin ich eigentlich nicht, aber das trifft es ganz gut. Astrid macht tolle Bilder, wir genießen die Zeit auf dieser kleinen Bank in der Sonne. Erst als meine Finger wegen der Kälte fast auf dem Metall kleben bleiben und ich das Gefühl habe, jeden Ton einzeln aus der kalten Handpan quetschen zu müssen (sie klingt eindeutig besser, wenn Frau sich fast die Finger daran verbrennt), ziehen wir in die Wohnkabine um, machen die Fußbodenheizung an und kochen uns was zum Abendessen. Alles natürlich im Schleichgang, weil geradeaus gehen nach der langen Fahrt mit den Schmerzen in den Beinen fast unmöglich ist. Astrids Hüfte, wo sie an die Felsen geknallt ist, schaut auch schlimm aus, sie kann sich überhaupt nicht auf diese Seite drehen und hat schon beim Sitzen Schmerzen. Es scheint aber nix kaputt gegangen zu sein, wir müssen einfach das Farbsprektrum abwarten und vergehen lassen, so, wie es im Moment aussieht.
Am nächsten Morgen starten wir im dichten Nebel unsere Weiterfahrt über Chur in die Nähe von Feldkirchen, wo wir uns spontan mit Beatrix und Roger von den Kilometerhelden verabredet haben. Zwei ganz liebe Menschen, die diesen Verein ins Leben gerufen haben, um inkludierenden Sport und die Ausbildung von Assistenzhunden zu fördern. Wir treffen sie gegen Mittag in einer Gastronomie, wo wir auch grad noch was Kleines reinwerfen und uns ansonsten schön mit den beiden ein paar Stunden unterhalten können. Eigentlich wollten wir sie beim Mozartlauf an Pfingsten dieses Jahr in Salzburg schon treffen, doch das mussten wir leider krankheitsbedingt absagen und so sind wir froh, dass uns diese Gelegenheit über den Weg gelaufen ist.
Von hier aus sind es dann auch nur noch zwei Stunden bis nach Hause, bzw. in unseren Stammgasthof, wo wir diese superschöne Woche bei Steak und Bier würdig abschließen können.
Wir haben das Gipfelkreuz des Barre des Écrins in den Händen gehalten. Jetzt müssen wir dort nicht mehr hin. Eine lange Reise der anderen Art geht damit zu ende und schafft Raum für neue Ziele. Lasst mich überlegen, ja, ich hätte da schon wieder was im Sinn….