top of page

Cima Marmotta (Köllkuppe), 3327m, 04.10.2019

Das lange Wochenende um den 3. Oktober 2019 naht. Es ist ein Bergteigewochenende. Keine Arbeit. Keine anderen Verpflichtungen. Nur leider schon sehr spät für eine Hochtour. Die üblichen Verdächtigen für eine Übernachtung in der Höhe sind alle bereits geschlossen. Die Wettervorhersage für die Ostalpen ist abgesehen vom Feiertag sehr durchwachsen und eher nicht für Experimente auf hohen Bergen geeignet. 2019, so habe ich am Ende dieser Tour in mein Bewusstsein gehorcht, war das erste Jahr seit wir mit Hochtouren begonnen hatten, in dem wir keinen 4000er bestiegen haben. So wird es dann wohl auch bleiben. Doch ich will nicht undankbar sein. Immerhin wurde es wider Erwarten so gut mit unseren Knochen, dass wir zwei Wochen zuvor die Weißseespitze im Kauntertal überschreiten konnten. Und dass danach in diesem Jahr überhaupt noch ein Berg geht, auf dessen Weg zum Gipfel Steigeisen, Pickel und Seil angeraten sind, ist mehr als wir hoffen durften. Wohin denn nu? Facebook sei Dank lernten wir wenige Tage vor Start, dass die Marteller Hütte bis zum 6. Oktober offen hat. Da sind wir schon zweimal gewesen. Ein wirklich schönes Plätzchen, sowohl im Winter als auch im Sommer. In der Gegend sollte das Wetter etwas stabiler bleiben und nachdem uns eingefallen ist, dass wir im Vinschgau noch einen Gipfel offen haben, den wir wegen schlechten Wetters vor zwei Jahren abbrechen mussten, war der Punkt geklärt. Es wird die Köllkuppe. Oder auf italienisch die Cima Marmotta (hört sich auch gleich viel spektakulärer an). Ich kenne keine Kriterien bei den 3000ern, die sagen, wann ein 3000er ein eigenständiger Berg ist. Legt man die Maßstäbe für 4000er an, so handelt es sich bei der Cima Marmotta wegen der geringen Schartenhöhe zur benachbarten westlichen Veneziaspitze nicht um einen eigenständigen 3000er. Aber hey, es steht ein provisorisch wirkendes Gipfelkreuz auf dem Grat. Somit hat man zumindest für den Kopf ein Ziel geschaffen. Die prominenten Gipfel um die Hütte herum erklommen wir bereits zu Fuß und teilweise mit Ski (Monte Cevedale, Zufallspitze). Die Cima Marmotta ist eher eine kurze, leichte Hochtour, die man nach den erreichten glorreichen Bergen noch dranhängen kann. Doch für unsere Zwecke ist sie völlig ausreichend. Es gelten immer noch die Regeln der letzten Touren: Nicht zu viele Höhenmeter, insbesondere im Abstieg und nicht zu anspruchsvoll, damit die Reserven nicht provoziert werden müssen. Optional kann die Überschreitung der Veneziaspitzen angehängt werden, was einen Rundweg mit überschaubaren Schwierigkeiten ermöglicht. Und für den Abstieg von der Hütte nach dem Gipfeltag besteht die weitere Option, über den Rotspitz zu gehen, der ein schöner Wander-3000er sein soll. Blöderweise beginnt sich eine leichte Erkältung bei mir auszubreiten. Wird schon gehen. Ich kontaktiere den Hüttenwirt und wir können sogar noch zwei Plätze im Zimmerlager bekommen. Da stehen nicht so viele Betten drin. Ist mir als Frau lieber. Wir planen zwei Übernachtungen. Wir wollen am Gipfeltag nicht gleich runter hetzen müssen und außerdem haben wir Urlaub und wollen einfach ein paar herbstliche Tage in den Bergen genießen. Ohne Stress. Ohne Druck, zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten sein zu müssen. Wir beginnen unsere Bergfahrt am Feiertag. Ein Fehler. Die einzig sinnvolle Route führt über den Fernpass. Wir benötigen schon mehr als 3 Stunden bis dahin, wo wir üblicherweise das Pickerl für die Autobahn kaufen. Mehr als doppelt so lange wie sonst. Ruhig bleiben. Was anderes hilft nicht. Und so tuckern wir weiter über den Reschenpass am Abzweig zum Stilfser Joch vorbei. Die Straße von Mals nach Meran ist nicht weniger voll. Außerdem ist die Apfelernte in vollem Gang. Kleine Schlepper mit großen Apfelanhängern wohin man schaut. Nach vielen Stunden kommt dann aber doch der Abzweig in Goldrain ins Martelltal vorbei. Wir biegen ab. Es beginnt ein langer Anstieg ins Tal hinein. Der Talschluss an der Enzianhütte liegt auf über 2000m. Viele, viele Tornati in kurzen Folgen auf schmalen Straßen sind zu bewältigen. Oben angekommen ist der Parkplatz brechend voll mit deutschen Wandertouristen. Glücklicherweise hat die Marteller Hütte einen eigenen kleinen Parkplatz, der von den Übernachtungsgästen benutzt werden darf. Dort ist auch die Talstation der Materialseilbahn, mit der die Hütte versorgt wird. Auf der Homepage der Hütte lernten wir, dass man gegen einen entsprechenden Obulus auch einen Gepäcktransport vereinbaren kann. In Anbetracht der Umstände bezüglich Knie und Füßen hatten wir diese Option beim Hüttenwirt eingetütet. Bergsteigen light. Ich hatte ein klitzekleines schlechtes Gewissen, nicht alles selbst hoch und runter zu schleppen, wie sonst. Doch wozu den Zustand der Knochen riskieren, wenn eine einfache Lösung zur Verfügung steht? Für die eigentliche Bergtour müssen wir ja unser Zeug trotzdem schultern. Der Parkplatz ist mit einer Kette versehen, damit sich niemand einfach so hinstellen kann. Direkt daneben steht eine Würstelbude. Als wir uns anstellen, auf den Parkplatz zu biegen, kommt dort gleich einer rausgewackelt und beginnt, sich unser Kennzeichen zu notieren. Na das kann ja lustig werden, denke ich. Was will der Vogel? Ich steige aus. In Röckchen und frisch rot lackierten Fingernägeln gehe ich auf den Kerl zu. Der schaut verdutzt. Die Fragezeichen sind gut zu erkennen auf seiner Stirn. Ich erkläre, dass wir auf der Marteller Hütte zwei Nächte bleiben wollen. Daher der Wunsch, deren Parkplatz zu benutzen. Er entspannt sich. Ob ich eine Bestätigung hätte? Ich hole mein Telefon und zeige ihm die Konversation mit Christian, dem Hüttenwirt. Wir dürfen parken. Ich erkläre ihm außerdem, dass wir vereinbart hatten, einen Teil unseres Gepäcks mit der Seilbahn transportieren zu lassen. Darum kümmern wir uns später, meint er, wir sollen erstmal von der Straße runter. Der Parkplatz ist fast leer. Wir schwingen uns in unsere Bergsteigerinnenklamotten, was dem Würstelbudenbesitzer nicht entgeht. Er passt wirklich gut auf. Ihm wird klar, dass wir nicht nur wandern wollen. Er kommt zu uns rüber und wir lernen, dass er Rudi heißt. Er wird kooperativ. Möchte nochmal die eMail von Christian sehen. Nach dessen Info sollte ich mich melden, wenn wir angekommen sind, dass er uns den Seilbahnkasten runterfahren kann. Den Anruf übernimmt Rudi für uns. Schließlich ginge man in der Hütte nicht bei jedem Anfruf ans Telefon. Es wäre nicht egal, wer anruft. Rudi stellt die Verbindung her, reicht mir sein Telefon und ich bespreche mich mit Christian. Zu dem Zeitpunkt weiß ich nicht, dass Christian gar nicht auf der Hütte ist. Wir sollen unser Gepäck einfach in die Talstation stellen. Sie holen es später ab. Wird schon passen, denke ich. Wir tun, wie uns geheißen, und brechen mit leichtem Gepäck auf zur Hütte. Rudi fängt uns nochmal ab und möchte genau wissen, auf welchen Berg wir wann wollen und wann genau wir in zwei Tagen wieder unten bei ihm ankommen. Es passiere ja so viel und es wäre gefährlich im Gebirge und es wäre gut, wenn er unsere Pläne kenne, damit im Fall des Falles....usw. Er meint es gut und bekräftigt, es gehe ihn ja nix an, aber trotzdem sollte jemand Bescheid wissen, um in Zweifel helfen zu können. Wir verstehen das, schmunzeln ein wenig in uns hinein, geben Auskunft so gut wir können. Er entlässt uns und dann geht es endlich los. Der Zustieg ist moderat lang mit rund 600 Höhenmetern. Dazwischen liegt noch die Zufallhütte. Bis dahin führt eine breite Wanderautobahn. Der Tag neigt sich bereits seinem Ende. Wir treffen auf überraschend wenige Menschen, wenn man den vollen Parkplatz unten bedenkt. Auf dem Weg nach oben höre ich kritisch in mich hinein. In den Tagen zuvor versuchte ich, meine Erkältung in den Griff zu bekommen. Ich war der Meinung, dass mir das gelungen ist. Meine Frau geht voran. Ich wundere mich etwas über ihr Tempo. Das Ausdauertraining über den Sommer scheint Früchte getragen zu haben. Doch ich komme nicht außer Atem. Es geht mir bis auf eine Rotznase halbwegs gut. Zwischendurch legen wir in den letzten Sonnenstrahlen eine Teatime ein. Herbst in den Bergen ist was schönes. In einer reinen Gehzeit von etwa 1,5 Stunden erreichen wir kurz vor 18Uhr unser zu Hause für die nächsten zwei Tage. Die Wandergäste des Tages hatten sich bereits verabschiedet. Die Hütte wirkte nahezu ausgestorben. Hinten in der Bar fanden wir jemanden, dem wir unsere Ankunft mitteilen konnten. Er nannte uns unser Zimmer und die Zeit für das Nachtessen. Wir wiesen gleich darauf hin, dass wir noch Gepäck mit der Seilbahn erwarten. Ja, das dauere noch, meint er. Christian sei noch im Tal, komme später hoch und dann käme auch unser Material mit hoch. Immerhin wusste er von dem geplanten Transport und so machte ich mir keine Sorgen. Da sich in dem Sackerl auch unser Übernachtungszeug befand, gab es nichts einzurichten oder vorzubereiten und so gingen wir gleich zum Bier über. Es gesellten sich noch ein Pärchen und eine Gruppe mit 4 Jungs zum Nachtessen hinzu. Mehr sind nicht da gewesen. Das Zimmer hatten wir demnach zumindest für die erste Nacht für uns alleine. Wir aßen, ließen noch ein Bier drauf, quatschten mit den Anwesenden. Die Vierergruppe wollte am darauffolgenden Tag zur Zufallspitze. Aus deren Gesprächen gewannen meine Frau und ich den Eindruck, dass keiner von ihnen so richtig wusste, was sie da vor hatten. Ein kurzes Gespräch über Sommer- und Winterweg auf die Zufallspitze folgte. Unter Zustimmung des -ich nenne ihn Barkeeper, weil ich nicht weiß, wie er heißt- überzeugten wir die Jungs, den Weg über den Grat zu nehmen und nicht an der Fürkelescharte dort einzusteigen, sondern einen Buckel über den Gletscher weiter oben. Deren Plan, der Skiroute zu folgen, hätte bedeutet, am zweiten steilen Anstieg mitten durch eine Bruchzone zu gehen. Im Winter ok. Im Sommer ein unnötiges Risiko. Zumal eine dünne Neuschneeauflage der letzten Tage hinzu kam. Wir hatten nach unserem Empfinden unsere Schuldigkeit getan. Inzwischen gab es mehrere Telefonate zwischen unserem Barkeeper und Christian, dessen Ankunft sich offensichtlich zunehmend verzögerte. Wir wären gerne in unsere Bettchen gekrabbelt. Müde von der Fahrt harrten wir jedoch weiter aus. Die anderen Gäste verabschiedeten sich. Wir bestellten stattdessen Espresso und Schnaps. Gegen 22 Uhr sollte dann aber doch die Bar zugesperrt werden. Unser Sackerl war noch nicht da. Mal abgesehen davon, dass auch unser Hochtourenzeug da drin war und ich mir schon überlegte, was wir ohne Pickel und Steigeisen hier so tun können, war da auch der Hüttenschlafsack drin. Unser Zeug käme schon noch hoch, versicherte uns der Barkeeper. Wir bekamen von ihm zwei Hüttenschlafsäcke, damit wir "regelkonform" übernachten konnten und er abschließen konnte. Kurz vorm Einschlafen hörte ich dann tatsächlich nochmal Bewegung in der Hütte. Naja, dachte ich, drücken wir mal die Däumchen, dass es unser Sackerl auch nach oben geschafft hat. Es folgt eine unruhige schlaflose Nacht. Meine Erkältung fand das Rumgelaufe dann doch nicht so gut. Der nächste Morgen. Frühstück sollte es um 6:30 Uhr geben. Um die Zeit war es jedoch noch dunkel in der Küche. Ich nutzte die Zeit, durch Materialraum und die anderen offenen Bereiche zu gehen und nach unserem Sack Ausschau zu halten. Fehlanzeige. Kein Sack. Priml. Mit etwas Verspätung erschien Christian in der Küche. Ich erkannte ihn gleich, da wir schon zweimal hier waren. Mit kleinen Augen und offensichtlich nicht ausgeschlafen, begann er damit, Frühstück zu richten. Unser Sack stünde draußen an der Seilbahn, meint er auf Nachfrage. Er sei gegen 23 Uhr erst raufgekommen. Mein erster Gedanke: Unsere Camelbacks sind mit ziemlicher Sicherheit eingefroren, wenn der Materialsack die ganze Nacht draußen stand. Glücklicherweise war das dann aber nicht so. Und so richteten wir vor dem Frühstück erstmal unser Zeug für den Tag. Die 4 Jungs brachen vor uns auf. Vom Frühstück aus beobachtete ich deren erste Meter in Richtung Zufallspitze. Die Nacht war klar. Es gab keinen zusätzlichen Schnee. Meine Frau und ich brachen gegen 7:30Uhr ebenfalls auf. Es ist kalt. Erstes Ziel: Der Gipfel der Cima Marmotta. Ob wir dann weiter über die Veneziaspitzen gehen würden, machten wir davon abhängig, wie es uns am Gipfel geht und wo sich das Wetter hin entwickelt. Die Vorhersage hatte sich ein wenig verschlechtert. Ab Mittag sollte es zuziehen. Erneut hirschte meine Frau zügig vorneweg über die alte Seitenmoräne auf dem Weg #27 mit dem Ziel Gletscherrand Hohenferner. Der Unterschied zu gestern: In meinem Rucksack sind 2 Liter mehr zu trinken drin, das Metall für die Gletschertour, der Klettergurt, der Eispickel, die Steigeisen und 60m Seil. Alles zusammen rund 7-8 kg mehr als beim Hüttenzustieg. Die machen sich bemerkbar. Hinzu kommt die Höhe. Wir sind von einer Akklimatisation weit entfernt. Ich schnaufe. Die Erkältung lässt mich etwas schlapp fühlen. Doch es ist alles im grünen Bereich. Dem gut gekennzeichneten Weg folgen wir über Wege und glattgeschliffene Felsen zum Gletscherrand. Am Vortag ist eine größere Gruppe mit Bergführer oben gewesen, sagte man uns auf der Hütte. Eine Spur ist auf dem zart eingeschneiten Gletscher gut zu sehen. Es ist jedoch auch so, dass wir uns im Vorfeld etwas besser über den Einstieg vom Gletscher auf den Grat informierten. Bei unserem ersten Versuch, mit Null Sicht und sturmartigen Wind vor zwei Jahren, sind wir zu weit westlich am Grat angelandet. Dieses Mal bei besserer Sicht war die Route eindeutig, auch ohne getretene Spur. In Eisnähe wird es noch ein wenig kälter. Die Daune kommt noch unter die Hardshell. Wir essen und trinken kurz was, machen uns mit Steigeisen und Seil fertig, um den Gletscher zu betreten und wechseln von Fels auf Eis. Der Gletscher gilt als spaltenarm. Das Seil ist trotzdem obligatorisch. Eine kleine Spalte gibt es dann auch, die überstiegen werden möchte. Anfangs ist es flach. In Richtung Grat wird es steiler. Manche Beschreibungen reden von über 40°. Das würde ich so nicht unterschreiben. Meiner Meinung nach erreicht man höchstens 30-35°. Es ist an keiner Stelle nötig, auf die Frontalzacken zu wechseln. Als es in die Felsen geht, packen wir das Seil weg. Der Rücken ist breit und wenig exponiert. In wenigen Minuten erreichen wir das Gipfelkreuz. Erst hier kommen wir in die Sonne. Entgegen der sehr schnell ziehenden Wolken, die eine entsprechende Brise am Grat vermuten ließ, ist es nahezu windstill. Die Aussicht ist ein Traum. Frau sieht bis in die Dolomiten und die Adamello-Presanella-Gruppe auf der einen Seite und natürlich zu den Nachbarn Zufallspitze mit Grat zum Cevedale sowie Königspitze, Monte Zebru und König Ortler auf der anderen Seite. Von dort ist unverkennbar eine anrollende Wolkenfront auszumachen. In wenigen Minuten ist sie über Ortler und Königspitze hinweg und kommt zügig auf uns zu. Ein beeindruckendes Schauspiel. Weiter im Norden regnet und schneit es bereits. Schwer einzuschätzen, was passiert, wenn sie uns erreicht. Die Wolkendecke ist noch relativ hoch. Wir blicken hinüber zu den Veneziaspitzen. Es liegt etwas Schnee in den Graten. Besonders schwierig ist der Weg nicht. Nur der erste Grat zur westlichen der drei Spitzen von uns aus hat einige Kletterstellen. Bis zu diesem Gipfel schafften wir es inklusive aller kurzen Pausen und Umrüstaktionen in etwas mehr als 2,5 Stunden für rund 800 Höhenmeter. Wir diskutieren, ob wir weiter gehen wollen oder den Rückzug antreten sollten. Wir entscheiden uns für letzteres. Wir wollen uns dieses überaus schöne und sehr einsame Erlebnis nicht durch Schlechtwetter und Zeitnot kaputt machen. So groß ist der Reiz der Veneziaspitzen dann doch nicht. Nach der Erfahrung an der Weißseespitze vor zwei Wochen wissen wir, dass der Abstieg mit Gepäck in sich schon eine Herausforderung für unsere Knochen ist. Außerdem haben wir damit einen Grund, vielleicht mal im Sommer wieder zu kommen. Also, Rückzug. Es geht überraschend gut bergab. Das erste Stück im steileren Hang gehen wir seilfrei. Kurz vor der Spaltenzone, die auf einigen Bildern im Netz erkennbar ist, klöppeln wir wieder den Strick zwischen uns. Im Nu sind wir zurück am Gletscherrand. Es zieht richtig zu. Die umliegenden Gipfel befinden sich bereits in den Wolken. Die eine oder andere Schneeflocke fällt. Der Wind frischt auf. Das Gletschergeraffel kommt in den Rucksack zurück. Wir essen und trinken noch was und sind der Meinung, dass wir die richtige Entscheidung getroffen haben. Es klart zwar später wieder auf, doch es bleibt kalt und windig. Erst kurz vor der Marteller Hütte ziehen wir die Daune aus und wechseln von den dicken Handschuhen auf die nächst leichtere Variante. Es ist eben kein Sommer mehr. Anfang Oktober ist es in 3000 Metern nicht mehr weit zum Winter. Auf dem Rückweg legen wir an einem windstill gelegenen Stein eine kurze Pause ein, genießen die Einsamkeit (uns ist tatsächlich den ganzen Tag kein einziger Mensch begegnet) und freuen uns an der Aussicht und dass wir so spät im Jahr doch noch eine so schöne Tour machen durften. Uns wird bewusst, dass wir beide gar nicht mehr damit gerechnet hatten, überhaupt nochmal in die Berge zu kommen. Umso schöner ist der Moment. Gegen 14 Uhr erreichen wir die Marteller Hütte. Es ist laut. Im Keller wird umgebaut. Ein Presslufthammer ist am Werk. Um dem Magenknurren entgegen zu wirken, drehen wir uns einen Kaiserschmarrn rein. Wie üblich, teilen wir uns einen, denn so eine ganze Portion macht satt bis zum nächsten Tag und steht energetisch in keinem Verhältnis zur geleisteten Arbeit. Wichtig zu erwähnen: Der Kaiserschmarrn auf der Marteller Hütte ist der Beste, den ich je gegessen habe. Nach der letzten Nacht mit sehr wenig Schlaf, freute ich mich eigentlich darauf, bis zum Nachtessen noch ein wenig Schlaf nachholen zu können. Wir ziehen uns zurück in unser Lager, doch das unablässige Gehämmere, das wie ein Erbeben stundenlang durch die Hütte donnert, verhindert das. Mehr als Ruhen ist nicht möglich. Hinzu kommt, dass zwei Bergsteiger in unserem Zimmer einchecken. Deren Gekruschtel über eine gefühlt endlose Zeit, macht es auch nicht leichter, die Augen zu schließen. Wir hören ein wenig Hörbuch. Ich nicke dann doch für wenige Minuten ein. Als ich aufwache, merke ich, dass die Erkältung zurück ist. Blöd aber nicht zu ändern. Wir raffen uns auf, krabbeln aus den Schlafsäcken und sind uns einig, dass es Zeit für ein Gipfelbier ist. Die ganzen Wanderer, die nachmittags die Hütte füllten, sind inzwischen abgedampft. Die Handwerker stellten ihre Arbeit ebenfalls ein. Stille. Schön. Von dem wandernden Pärchen des Vorabends lernten wir, dass die 4 Jungs ihre Tour auf die Zufallspitze abgebrochen haben. Die Verhältnisse erschienen ihnen zu winterlich. Den Einstieg in den Grat haben sie wohl auch nicht recht gefunden und dann wollten sie es doch übers Eis versuchen. Das haben sie dann aber auch schnell wieder sein lassen und kamen zurück. Besser so. Mein Eindruck bestätigte sich, dass sie keine Erfahrung mit derartigen Touren hatten. Von daher fand ich deren Entscheidung vernünftig. Über das Handeln anderer Bergsteiger zu urteilen, will ich mir an der Stelle jedoch nicht anmaßen. Wir sitzen abends alle wieder beisammen, hatten eine schöne Zeit und sind heile. Niemand fehlt. Mehr ist nicht wichtig. Wir sitzen beim Nachtessen mit unseren Roommates und zwei weiteren Bergsteigern zusammen. Alle vier wollen es am nächsten Tag der anderen erwähnten Gruppe gleich tun. Auch bei ihnen bemerken wir, dass es keine feste Idee für den Weg zum Gipfel gibt. Schon merkwürdig. Wir beugen uns erneut zu sechst über die Karte und meine Frau und ich geben erneut eine Empfehlung für die Routenwahl raus. Sicher ist, dass das Wetter sich weiter verschlechtert. Warum man mit so einer Vorhersage trotzdem auf den Berg steigt, verstehe ich nicht. Doch das ist auch nicht mein Problem. Mein Problem an dem Abend und der folgenden Nacht ist meine Rüsselpest. Die wird immer schlimmer. Nasenspray hilft nicht mehr. Es folgt eine weitere schlaflose Nacht. Zwischen Husten, den ich so gut es geht zu unterdrücken versuche, und meiner luftundurchlässigen Nase, was in Schnaufen über den Mund endet, zähle ich die Minuten, bis aufgestanden werden darf. Ich fühle mich, wie von einer Dampfwalze überrollt. Das Vorhaben, noch den Rotspitz in den Abstiegsweg zu integrieren, lassen wir sogleich fallen. Ich werfe ein, was wir an Medikamenten dabei haben. Glücklicherweise fühle ich mich nach dem Frühstück und den Medikamenten besser. Wir packen die schweren Sachen wieder in unser Sackerl. Die Talfahrt für unser Material ist vereinbart und funktioniert dieses Mal auch pünktlich. Auf dem Weg nach unten schwebt die Materialseilbahnkiste über uns hinweg. Es ist kalt. Es fallen Schneeflocken. Die Gipfel ringsum sind alle in den Wolken. Ich denke kurz an die anderen Bergsteiger und wünsche ihnen die nötige Entschlusskraft. Den Ziegen und Schafen, denen wir begegnet, fehlt es nicht an Entschlusskraft. Wir machen ein kleines Gruppenfoto und als wir weitergehen, schließt sich uns die ganze Herde an. Witzig. Endlich finde ich mein zweites Standbein. Ziegenhirtin. Das Futter weiter unten wird aber dann doch interessanter als die zwei Rotjacken mit dem Mammut am Rucksack. Und so lassen sie uns nach kurzer Zeit alleine weiterziehen. Rudi fällt mir wieder ein als der kleine Parkplatz in Sicht kommt, an dem unser Sackerl schon wartet und wo unser Auto steht. Die Würschtelbude ist zu. Ich frage mich, was er wohl tun würde, wenn wir bis Mittag nicht zurückgewesen wären. Nichts vermutlich. Woher hätte er es wissen sollen. Much ado about nothing (Shakespeare). Eine schöne Zeit in den Bergen geht zu Ende. Obwohl wir nicht viel von den Plänen in unseren Köpfen umgesetzt haben, so ist doch etwas schönes gelungen. Die einsame Besteigung der Cima Marmotta. Und es ist ein Ziel übrig geblieben, dass es rechtfertigt, diesen wunderschönen Flecken Erde erneut aufsuchen zu dürfen. Abschließend will ich noch was zur Behandlung von Milla loswerden. Bei der verbindlichen Buchung der Schlafplätze erwähnte ich, warum ich nach Möglichkeit gerne mit möglichst wenigen Menschen das Zimmer teilen möchte. Ob das tatsächlich den Ausschlag gegeben hat, kann ich nicht überprüfen. Erfahren habe ich jedoch, dass Milla zu keiner Zeit misstrauisch oder argwöhnisch beäugt wurde. Man hat mich behandelt, wie jede andere Bergsteigerin auch. Gleiches gilt für die anderen anwesenden Wanderer und Bergsteiger. Natürlich sind die Menschen ein wenig irritiert, wenn ich mit rot lackierten Fingernägeln in der Berghütte sitze. Doch ich wurde deswegen nicht aus den Gesprächen ausgeschlossen oder gar dumm angemacht. Mich hat eher gewundert, dass mich niemand aus Neugier oder vielleicht sogar Willen zum Wissen darauf ansprach. Keine Ahnung, ob das jetzt gut oder schlecht ist. Fakt ist, ich wurde einfach akzeptiert, wie ich bin. Die Menschen hatten eher ein Interesse daran, von unseren Erfahrungen mit den umliegenden Bergen zu profitieren. Was sie unter sich oder jeder für sich sprachen oder dachten, kann mir egal sein. Passt.

bottom of page