Überschreitung Großvenediger, 3666m, 18.-19.09.2020
An einem Wochenende mit schönem Wetter auf den Großvenediger. Der Berg ist ähnlich prominent, wie Großglockner, Ortler, Gran Paradiso. Bei guten Bedingungen werden Heerscharen an Touristen von Bergführern auf den einfacheren Routen zum Gipfel gezogen. In diesem Fall bis zu 10 am Strick eines einzigen Führers. Eine "gute" Idee, ein Wochenende mit voller Hütte auszusuchen, um das Wort "Sch..." nicht bemühen zu müssen. Ist mir aber erst später eingefallen, als wir die Kürsingerhütte als Start auserkoren hatten und ich lernte, was für ein riesiger Schuppen das ist. Selbst unter Corona-Bedingungen fanden dort an die 100 Gäste Platz. Ich persönlich hatte am Abend den Eindruck gewonnen, dass die Hütte ganz normal voll ausgebucht war. Plus ein paar Extra-Gäste, die in den Fluren auf Matrazen übernachten mussten. Maske tragen war bei den allermeisten Fehlanzeige. Wir sind bis auf wenige Ausnahmen die einzigen gewesen. Aber mal von vorne.
Also, das Ziel war ja ausgesucht. Laut Buchungssystem sind nur noch Plätze in der Kürsingerhütte von Freitag auf Samstag Nacht verfügbar und so nehmen wir, was wir bekommen können. Astrid und ich hatten den Freitag frei und kein Problem damit. Alex und Manuel mussten Arbeiten und für sie blieb nur das letzte Taxi am Tag. Immerhin ist deren Anfahrt um einiges kürzer. Das Taxi. Um sich einen erheblichen Teil des Zustiegs zur Hütte, etwa 10km mit 800 Höhenmetern über Forststraße, ersparen zu können, besteht die Möglichkeit, einen Platz im Pendeltaxi einzukaufen. Da wir uns in einem Nationalpark befinden, endet die individuelle Anreise mit Verbrennungsmotor spätestens am Parkplatz Hopffeldboden. Die Alternative wäre, die Strecke von Hopffeldboden bis zur Materialseilbahnstation der Hütte mit dem Radl zu machen. Das tun auch relativ viele. Die meisten mit Elektrounterstützung. Wir entschieden uns fürs Taxi. Mit vollem Hochtourenrucksack ohne Strom am Pedal und anschließendem Aufstieg zu Fuß zur Hütte, fiel die Wahl nicht so furchtbar schwer. Bedeutet natürlich nicht ganz unerhebliche Zusatzkosten.
Nach etwas Beschäftigung mit dem Berg fanden wir heraus, dass es von der Kürsingerhütte aus neben dem Schneehatscher auch attraktive Alternativen gibt. Relativ viel begangen wird der Nordgrat, obwohl er zugleich einen schwierigen, wenn nicht den schwierigsten Anstieg darstellt. Daneben bietet der Westgrat schöne Kletterei. Dieser wird, warum auch immer, vergleichsweise wenig begangen, obwohl er laut Literatur etwas leichter ist als zumindest die Schlüsselstelle im Nordgrat. Ähnlich dem Nordgrat gibt es die Möglichkeit, den Grat vollständig zu begehen oder, mit Aufstieg über spaltiges Gletschergelände, an einer Scharte vor dem letzten Anstieg zum Gipfel einzusteigen, was die meisten tun. Wir wählen die letztgenannte Variante. Der ganze Grat ist etwa 2,5 km lang. Für nicht ganz so erfahrene alpine Klettererinnen ist das eine Herkulesaufgabe, die wahnsinnig zeitaufwändig wäre. Das Taxi am Samstag zurück zum Parkplatz ist schon gebucht. Termindruck.
Auf meiner Kompasskarte im Telefon ist die Route von der Hütte unterm Nordgrat hindurch auf dessen Westseite rauf zur Scharte als Skitour eingezeichnet. Bereits von der Hütte aus ist im Prinzip fast der ganze Anstieg zu sehen. Wenngleich natürlich die spannenden Stellen auf die Entfernung nicht eingeschätzt werden können. Aus diversen Beschreibungen wissen wir, dass es ziemlich große Spalten geben soll und dass die Brücken gerade im fortgeschrittenen Sommer deutlich an Tragfähigkeit verloren haben. Aber wir sind ja zu viert am Seil und wahrscheinlich ist eine Spur getreten. Das Wetter war die letzten 2 Wochen so gut. Da ist bestimmt jemand raufgegangen. Die Kletterei am Grat soll die II+ nicht übersteigen. Eigentlich ein Gelände, das wir seilfrei begehen können. Der durchwegs alpine Charakter (keine Bohrhaken, keine Standplätze o.ä., Sicherungen -sofern nötig und gewünscht- müssen alle selbst gelegt werden) veranlasst uns dazu, ein zweites Seil mit zu nehmen, damit wir am Grat zwei Zweierseilschaften machen können, die sich jeweils am laufenden Seil wenigstens rudimentär sichern können.
Gesagt, getan. Astrid und ich steigen gegen 16 Uhr freitags ins Taxi. Ein Neunsitzer, in dem wir zu zwölft hochkutschiert wurden. Platz ist knapp. Nicht alle haben reserviert. Die Fahrer geben ihr Bestes, es irgendwie hinzubekommen, dass niemand zurückbleibt. Gut durchgeschüttelt in stickiger Luft, die Fahrt erinnert ein wenig an das Taxi von Mestia nach Ushguli in Georgien, erreichen wir gut 20 Minuten später die Talstation der Materialseilbahn. Wer möchte, kann hier für ein paar Euro mehr seinen Rucksack in die Bahn werfen und ohne Gepäck zur Hütte gehen. Wir tragen. Training. Ohne Eile erreichen wir in der angegebenen Zeit von 1,5 Stunden gegen 18 Uhr das "Berghotel" auf 2558m Seehöhe. Nahezu erschreckend, wie viele Menschen hier rumlaufen. Die Hütte ist auch bei Tagesausflüglern beliebt. Es kommen immer noch Seilschaften vom Berg zurück. Ganz schön spät. Wir laden ab, melden uns an und bekommen ein Zimmerlager im Altbau zugewiesen, das über verworrene Wege unter Anleitung gefunden wird. Das Personal ist durchwegs sehr freundlich, was ich auf einer so großen Hütte eher nicht erwartet hätte. Trockenlegen. Bettchen herrichten. Wir haben unsere eigenen Schlafsäcke hinaufgeschleppt. Auf Österreichischen Hütten eine der Corona-Maßnahmen. Eine feste Uhrzeit fürs Nachtessen gibt es nicht. Wer da ist und essen mag, tut es. Gegen 19:30 Uhr rechnen wir mit Alex und Manuel und beschließen, bei einem frischen Stiegl zu warten. Ich spreche Peter an, der aufträgt, ob wir etwas über die Verhältnisse auf der Route Westgrat erfahren können. Er selbst weiß nix, doch wir sollen es später bei Siggi versuchen. Einfach Peter nochmal ansprechen, dann verrät er uns, wer Siggi ist. Fein. Die Zeit vergeht schnell. Ich sehe mir die Besetzung an den anderen Tischen an. Soweit ich das erkennen kann, sind nur sehr wenige ohne Bergführer unterwegs. Die Tische sind by the way alle bis auf den letzten Platz besetzt. Selbst vor der Anmeldung im Treppenhaus wird gegessen. Plötzlich werde ich von Alex gedrückt. Sie haben das letzte Taxi geschafft und die Hütte erreicht. Es ist bereits finster. Astrid zeigt ihnen, wo wir nächtigen und dann gibt's Futter. Das war gar nicht so übel. Was ich witzig fand ist, dass der Bergführer, der auf unserer Taxifahrt hinten im Kofferraum zwischen den ganzen Rucksäcken Platz nahm, in der Hütte bedient und am nächsten Morgen zwei Gäste auf dem Normalweg auf den Gipfel zieht. Er ist total nett und zuvorkommend. Nicht immer selbstverständlich bei Bergführern.
Als Futter fertig ist und wir uns überlegt haben, wann wir starten wollen, denn das macht hier auch jede(r) wie er oder sie will, sprechen wir Siggi an, der Hüttenwart, wie wir von Peter lernen. Die Verhältnisse seien ausgezeichnet. Allerdings war in den letzten Tagen niemand auf diesem Weg unterwegs. Ich stelle mir selbst die Frage, wie er das dann wissen kann. Aber gut. Frau muss Vertrauen haben. Also, keine Spur. Er gibt Auskunft, wie die Route ungefähr verläuft, was sich mit unseren Recherchen deckt. Passt. Auf die Frage, ob es am Grat eventuell Probleme mit dem offensichtlich vorhandenen Bergschrund gäbe, lautet die Antwort, es gäbe keinen nennenswerten Bergschrund. Nun gut. Vertrauen. Von dem netten Bergführer erfahren wir am nächsten Tag, als wir wieder an der Hütte zurück sind, dass dieser Bergschrund durchaus ein Problem darstellen kann und dass dies nicht selten vorkommt. Möglicherweise ist es genau dieser Bergschrund, der die Zahl der Begehungen klein hält. Wir finden das heraus.
Der Wecker klingelt um 3:45 Uhr am nächsten Morgen. In unserem Lager waren außer uns vieren noch zwei weitere, die nicht so früh raus wollen. Wir hatten abends mit ihnen geklärt, dass es kein Problem ist, wenn wir so früh aus den Federn krabbeln. So leise, wie möglich, verkrümeln wir uns aus dem Zimmer. An Schlaf war bei mir irgendwie nicht zu denken. Nennenswertes Geschnarche gab es nicht. Warum ich gefühlt kein Auge zu bekommen habe, weiß ich nicht. Der Puls war es nicht. Wir sind einigermaßen gut akklimatisiert. Die Nacht ist trotzdem vorbei. Frühstück. In der Hütte wurde ganz passabel aufgetischt. Personal ist keines da, doch es stand alles bereit. Marschtee gibt es auch. Das Brot, zumindest Astrids und meines, ist genießbar und nicht ausgetrocknet, wie so oft in Hütten. Der Kaffee schmeckt mit etwas Zucker ebenfalls ganz gut. Ich versuche, die Augen offen zu halten. Die erste Seilschaft ist schon unterwegs, berichtet Astrid.
Ich trete kurz vor die Tür und stelle fest, dass es relativ warm ist. Die Hardshell bleibt vorerst im Rucksack. Gegen 4:45 Uhr wackeln wir los. Erstes Ziel: Das Eis erreichen. Dazu folgt frau dem meist gut markierten Weg, den auch alle anderen nehmen, die auf dem Normalweg oder dem Nordgrat zum Gipfel wollen. Vor uns sind 2-3 Seilschaften, hinter uns kommt zunächst niemand mehr. Um auf die Westseite des Nordgrates zu gelangen, biegt frau erst nach dem Anlegen der Steigeisen an dem Platz, an dem alle das Eis erreichen, ab. Bis dahin sind wir schon etwa eine Stunde unterwegs, was mir relativ lang vorkommt. Aber, wie so oft, wird auch dieser Weg mit schwindendem Eis immer länger. Die nächste Herausforderung besteht darin, im Dunkeln das untere Ende des Nordgrates auszumachen und auf dem Weiterweg anzupeilen. Ab hier sind wir völlig alleine. Hinter uns ist inzwischen die endlos erscheinende Lichterkette der Normalwegaspiranten aufgetaucht. In unsere Richtung geht außer uns niemand. Als wir die Bruchzone in der Innenkurve um den Nordgratzipfel erreichen, wird es hell. Das ist auch nötig, um einen sinnvollen Pfad zwischen all den Spalten zu finden. Wir klöppeln das Seil ran. Die Gefahr, dass jemand irgendwo reinfällt, erscheint uns zu groß, auch wenn der Teil des Gletschers aper ist. Einen Weg durch dieses Labyrinth zu finden, erscheint zunächst unmöglich. Zumal nicht klar ist, wo genau wir sinnvollerweise auf der anderen Seite anlanden sollten. Hier stehen keine Schilder mehr. Mit dem Betreten des Eises beginnt das eigenverantwortliche Bergsteigen. Astrid geht vor. Hin und wieder beraten wir uns, wo eine günstige Route verlaufen kann, um nicht ständig vor der nächsten Blockade zu stehen. Ich bin einigermaßen überrascht. Mit nur wenig Querlaufen und Spaltenhopping finden wir ein Platzerl, das geeignet erscheint, die Kurve um den unteren Nordgratzipfel zu bekommen. Wir steigen auf Fels, montieren die Steigeisen ab und packen das Seil weg. Mein Höhenmesser zeigt etwa 2830m an. Ob das stimmt, ist fraglich. Die elektronischen Helferlein sind meistens viel zu ungenau, um sich darauf verlassen zu können. Das aufkommende Tageslicht erleichtert die Sache indes ungemein.
Eine enge Linkskurve ist nun zu nehmen. Wo und wie das einigermaßen effizient geschieht, hängt nur davon ab, wie wir uns anstellen. Es gelingt gut, wie ich finde. Um den Zipfel herum ist gut zu erkennen, dass der Schutt dicht auf der Westseite des Nordgrates weit nach oben reicht. Ich gehe vor und versuche, einen guten Weg soweit, wie möglich, auf dem Geröll zu finden. So kommen wir relativ geschmeidig an der ersten steileren und spaltigen Passage auf dem Eis ohne Steigeisen vorbei. Auf etwa 3000m geht es dann jedoch nicht mehr auf dem Geröll weiter. Ich mache mir außerdem Sorgen, denn das Geröll, auf dem wir rumturnen, liegt nicht einfach da, sondern ist von oben gekommen. Zu nah und zu lang an den Felsen entlang rumzustiefeln, ist möglicherweise nicht die beste Idee des Tages. Steigeisen an, Seil dazwischen. Wir steigen wieder aufs Eis. Astrid geht vor. Erkennbare Spuren gibt es keine. Wo wir hin müssen, die erste Scharte unterhalb des letzten Stückes Westgrat, ist gut zu sehen. Das vorhandene Licht im Schatten des Nordgrates lässt jedoch die Konturen der vor uns liegenden Absätze verschwinden. Das erschwert es, die Geländeformen für den Aufstieg so auszunutzen, dass mäßig steil und kraftsparend aufgestiegen werden kann. Wir bleiben weiterhin nah am Rand. Das Eis ist immer mehr von festem Firn bedeckt. Bilder im Kopf, die auf dieser Strecke gigantische Spalten zeigen, in die regelmäßig eingebrochen wird, lässt uns vorsichtig sein. Das Seil ist immer mehr oder weniger gespannt. Wir haben die Abstände größer als sonst gewählt, da wir vermeiden wollen, dass mehr als eine(r) aus der Seilschaft gleichzeitig auf einer Brücke steht. Seil haben wir ja genug dabei. Nach wie vor folgt uns niemand und es läuft auch niemand vor uns. Entgegen aller Annahmen sind wir auf dieser Route die einzige Seilschaft.
Der Firn ist hart und lässt sich mit Steigeisen gut gehen. Trotz des wenigen Kontrastes, finde ich, zogen wir eine ganz passable Spur durch das unberührte Weiß. Es gibt ein paar Stellen, die auf Spalten unter uns schließen lassen konnten. Doch der harte Schnee, in den frau nicht eingesunken ist, vermittelt ein gutes Gefühl. Ein kleines Stück legen wir auf Frontalzacken zurück, um auf einen der oberen Absätze zu gelangen. Dort offenbarte sich der erste unausweichliche Nervenkitzel. Von unten nicht zu erkennen, gähnte uns eine der besagten riesigen Spalten an. Wir entscheiden uns für die linke Brücke, deren vorderer Rand bereits eingebrochen ist. Rechts rum wäre es viel weiter in die falsche Richtung zu laufen. Es geht ein Stück auf dem Spaltenrand nach oben. Auf der Kuppe erkenne ich, dass die Brücke entgegen der Annahme weiter hinten einen guten Eindruck macht. Sie überspannt die Spalte schon mit einigen Metern, ist aber nicht eingesunken und der Firn ist hart. Astrid war das gar nicht geheuer, wie sie später sagt, geht aber am gespannten Seil weiter voraus und steigt als erste über die Spalte. Nix passiert. Hält. Wir gehen in ihren Spuren nach. Geschafft. Konturen einzelner Felsen in der Zielscharte vor uns sind zu erkennen. Kann also nicht mehr weit sein. Weitere größere Spalten kommen nicht mehr vorbei. Gut zu erkennen ist jedoch der Bergschrund vor dem Grat. Eine eindeutige Abrisskante zieht sich über die gesamte Länge. Unterbrochen wird sie von einigen fragwürdigen Brücken, die ein Übersteigen des Schrunds an mehreren Stellen möglich machen. Deren Aussehen mahnt zur Vorsicht. Astrid entscheidet sich für eine und steigt drüber. Passt auch. Sie geht bis in die Felsen durch, wohin wir folgen und wo erstmal eine kurze Pause eingelegt wird. Essen und Trinken ist wichtig. Es sind bereits etwa 5 Stunden seit Aufbruch vergangen. Ich beginne, mir Sorgen zu machen, ob wir das gebuchte Taxi noch rechtzeitig erreichen können. Nach 5 Stunden sollten wir eigentlich schon am oder wenigstens Nahe dem Gipfel sein. Der ist aber noch gut 200 Höhenmeter entfernt und die Kraxelei dorthin beginnt erst. Die anderen beruhigen mich. Wird schon passen. Einen kleinen Felsturm umrunden wir noch auf dem Firn. Er ist nicht zu übersteigen. In der Scharte dahinter sieht es besser aus. Steigeisen, Pickel und Stöcke kommen weg. Der Moment für den Einsatz des zweiten Seiles ist da. Wir bilden zwei Zweierseilschaften, die am laufenden Seil gleichzeitig klettern. Manuel steigt mit Alex vor. Ich und Astrid folgen in dieser Reihenfolge. Die Scharte, in der wir starten, liegt laut Karte auf 3460m.
Die Felsen sind einigermaßen kompakt und lassen sich gut klettern. An mancher Stelle bin ich nicht traurig, dass die Steine aneinander gefroren sind. Der eine oder andere gefrorene Schneeboppel kommt vorbei. Auch hier hat es vor kurzer Zeit Neuschnee gegeben. Die wesentlichen Griffe und Tritte sind absolut gut. Je nach Routenwahl würde ich die eine oder andere Stelle schon eher mit III bewerten. Manche Platte liegt auf dem Weg, bei der etwas Vertrauen in die Vibramsohlen nötig ist. Schon ein geiles Zeug. Solange kein Eis oder Feuchtigkeit auf den Felsen ist, sind erstaunliche Neigungen möglich. Manuel findet gute Passagen. Es gibt nur wenig Anhaltspunkte, wo die Hindernisse üblicherweise überstiegen werden. An prominenteren Graten finden sich normalerweise immer reichlich Kratzspuren von Steigeisen. Hier nicht. Da muss frau schon genau hinsehen, um erkennen zu können, dass hier schonmal jemand war. Läuft. Alex klettert souverän hinterher. Die eine oder andere Stelle birgt für sie ob ihrer Körpergröße kleine Herausforderungen. Doch ich staune, wie sie das hinbekommt. Die Seilführung ist gut. Wichtig, um auch sicher voranzukommen. Bis knapp unter den Gipfel, wo der Grat deutlich steiler wird, kommen wir ganz ohne gelegte Zwischensicherungen aus. Einige Felszacken bieten sich auf den letzten 30 Metern an, mit einer Schlinge versehen, das Seil zu halten. Schon luftig da oben irgendwie. Rund 1,5 Stunden später erreichen wir alle den Gipfel. Ich überlege, ein zweites Standbein zu schaffen und eine Currywurstbude auf den Gipfel zu stellen. Das würde sich rechnen. Glücklicherweise ist etwas unterhalb vom Gipfel auf dem Normalweg etwas Platz und es ist, nicht wie sonst häufig, niemand auf die Idee gekommen, sich direkt am Gipfelkreuz nieder zu lassen, um eine ausgiebige Gipfelrast zu machen. Gezählt habe ich nicht, aber 50 Menschen sind bestimmt rumgestanden. Ich freue mich, dass die nicht alle über den Westgrat gegangen sind. Dort waren wir während des gesamten Aufstiegs alleine. Mussten unseren eigenen Weg finden. Keine Spuren, keine Markierungen, keine Steinmanndl. Wir sind ein bisschen stolz. Gipfelfotos. Brutto benötigten wir etwa 7 Stunden bis hierher.
Oben ist erst der halbe Weg. Wir ziehen die Steigeisen wieder an und klöppeln uns zu einer Seilschaft zusammen. Im Abstieg erwarten uns ein paar große Spalten, die nicht selten von den Bergführern mit Leitern überbrückt werden müssen. Ich blicke hinunter zur Venedigerscharte, unter der typischerweise die größten Spalten lauern. Sehe aber keine, die mich nervös machen würde. Die breite Spur läuft am äußeren Rand der Scharte ohne erkennbaren Absatz nach unten. Abgesehen davon, dass es in dieser Passage etwas steiler ist, sind keine Schwierigkeiten auszumachen. Wir gehen los. Ein in der Literatur als schmaler Grat beschriebender Schneerücken ist so breitgetreten, dass auf- und absteigende Seilschaften problemlos aneinander vorbeikommen. Meine Füße mögen das Abwärtsgehen nicht. Ich bin bereits ein wenig erschöpft und muss mich aufs Gehen konzentrieren. Ich gehe voraus und kann so mein Tempo finden. Kurz vor der Venedigerscharte müssen ein paar Klamotten runter. Wo der Wind nicht hinkommt, ist es heiß. Ich esse und trinke nochmals. Meine Sportuhr gibt derweil mangels Strom den Geist auf. Ich hatte Garmin versprochen, nach der Tour Bericht zu erstatten, wie es um die Akkulaufzeit steht. Ein Ticket in der Entwicklung ist offen. Seit dem letzten Software-Update macht die Uhr Zicken.
Es geht weiter durch die Scharte nach unten. Die Schneeoberfläche lässt vermuten, dass es nicht egal ist, wo frau entlang geht. Wie breit die Brücken sind und wie gut der Schnee trägt, erfährt niemand, solange keine(r) einbricht. Im Gletscherbecken angekommen, muss noch eine Lage Kleidung in den Rucksack. Wir hören laute Stimmen und Gelächter von hinten. Ein paar junge Männer laufen im Haufen ohne Seil den Hang weitab der Spur hinunter und amüsieren sich dabei vorzüglich. Eine Mutprobe vielleicht? Dumm auf jeden Fall. Einer läuft auch noch auf eine erkennbare Spalte zu, die ein paar Meter entfernt offen ist und springt frei drüber. Anwesende Touristen finden ihn cool und mutig. Ich schaue weg. Dämlich ist das. Sonst nix. Er hat Glück und kann von seinen Heldentaten am Stammtisch erzählen.
Auf der Aufstiegsautobahn der Normalwegaspiranten watscheln wir weiter bergab. Auch irgendwie lang der Weg. Wir passieren die beiden Scharten im Nordgrat, queren noch einen Hang und gelangen aufs apere Eis. Ab hier schmerzt jeder Schritt. Wenigstens ist es nicht mehr so weit bis zum Wanderweg, der zur Hütte führt. Die Frage, wo es lang geht, stellt sich meist nicht. Eine kleine Spaltenzone am Rand ist auf vorhandenen Spuren schnell passiert. Der Gletscherrand, an dem wir morgens als einzige Seilschaft nach Südwesten abgebogen sind, ist erreicht, der anspruchsvolle Teil damit geschafft. Eisen aus, Seile weg. Fotos mit dem Firnfeld und dem Grat im Hintergrund, auf denen wir alleine unterwegs gewesen sind, schließen die Etappe ab. Von nun an ist "nur" noch ein bisschen Durchhalten die Devise. Beine und Füße sind müde. Unterwegs zur Hütte beschließen wir, unsere Rucksäcke mit der Materialseilbahn ins Tal zu schicken. Meine Bedenken hinsichtlich der Zeit lösen sich langsam auf. Kurz vor 15 Uhr biegen wir zum Materialraum der Hütte ein. Das Taxi macht gegen 16:45 Uhr zum Parkplatz. Die Zeit dazwischen müsste komfortabel genügen, um noch etwas zu Trinken, die Sachen, die wir morgens an der Hütte zurückließen, einzupacken und bis zur Talstation der Seilbahn abzusteigen. Viel länger als eine Stunde brauchen wir dazu nicht. Außerdem, haben wir gelernt, ist an diesem Samstag Almabtrieb und der Taxifahrplan damit einigermaßen durcheinander gekommen. Der freundliche Bergführer liegt nämlich an der Hütte in der Sonne und wartet auf seine neuen Gäste, die sich deswegen verspäten. Er erkundigt sich, wie es bei uns gelaufen ist und wie die Verhältnisse sind. Er schildert, wie oben schon erwähnt, dass der Bergschrund am Westgrat durchaus bezüglich seiner Überwindbarkeit variiert. Wir hatten es gut erwischt.
Eine kalte Coke läuft rein. Ich werfe noch einen Riegel drauf. Dann wandern die Rucksäcke in den Korb der Seilbahn und es geht ohne Last auf dem Rücken auf den Weg ins Tal. Da meint frau fast, sie könne fliegen. Jedenfalls anfangs. Bis wir an der Talstation ankommen, sind wir gut 1800 Höhenmeter vom Gipfel aus abgestiegen. Das geht nicht spurlos an uns vorbei. Ich zumindest bin einigermaßen abgekämpft nach rund 12 Stunden auf den Beinen und freue mich, die 10 km zum Parkplatz gefahren zu werden. Angenehm ist das nicht, aber besser als laufen. Der Neunsitzerbus ist am Start bereits mit 13 Menschen inklusive Gepäck beladen und wenige Kilometer vor Ende steigen noch eine Frau und ihr kleine Junge zu. Der Fahrer kann sie nicht stehen lassen. Sie sehen abgekämpft aus. Er hält und die Fahrgäste bemühen sich, irgendwie noch einen Platz freizubekommen, was auch gelingt.
Parkplatz. Glühende Füße. Klebrig von oben bis unten. Schnell mal an einem Samstag über den Westgrat auf den Großvenediger. Geschafft. Ob wir irgendwann den Nordgrat angehen, können wir uns überlegen. Der Weg ist ja nun bekannt. Nach Umzug und Sachen verstauen, verabschieden wir uns von Alex und Manuel. Sie haben ihre Sache heute richtig gut gemacht. Das freut mich ganz außerordentlich. Die nächste Tour mit ihnen ist bereits abgestimmt. Immer schön Tellerchen aufessen, damit das Wetter gut wird. Auf uns wartet eine etwa 4 stündige Heimfahrt.
Die Bilder stammen überwiegend von Alex und Manuel. Irgendwie war ich auf der Tour knippsfaul. Vielen Dank an die beiden an der Stelle.