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Hochvernagtspitze, 3535m, 17.-18.09.2023

Eine sehr durchwachsene Hochtourensaison 2023 neigt sich dem Ende zu. Durchwachsen deswegen, weil von schönen Bergerlebnissen mit neuen Menschen und neuen Schwierigkeiten, der Besteigung des Piz Bernina über den Biancograt als das Highlight des Jahres auch einige Touren dabei gewesen sind, die nicht so erfolgreich verliefen. Die gute Nachricht dabei ist, wir haben uns nirgendwo ernsthaft weh getan, konnten teilweise sehr herausfordernde Situationen selbständig auflösen, haben einiges über uns gelernt und ich persönlich glaube, dass wir gerade auch an den vermeintlichen Fehlschlägen gewachsen sind. Die Geschichten dazu sind hier zu finden: Zinalrothorn und Barre des Écrins, lediglich zur Watzespitze habe ich nix aufgeschrieben, denn das war eine Tour, bei der so gar nix gepasst hat und bei der wir bereits kurz nach dem Einstieg quasi neben der Kaunergrathütte das Handtuch warfen, was aber auf jeden Fall auch die richtige Entscheidung gewesen ist.

Wie dem auch sei, um die Motivation fürs Bergsteigen zurückzugewinnen, sollte die letzte Hochtour für dieses Jahr etwas sein, wo die Wahrscheinlichkeit, den Gipfel zu erreichen, möglichst hoch ist und gleichzeitig sollte es ein neuer Berg werden, der nicht so ewig weit weg liegt, auf dem wir trotzdem jedoch noch nicht gewesen sind, ungefähr so, wie der Piz Kesch im letzten Jahr. Hinzu kommt, dass unser lieber Nachbar Marcel wohl Geschmack am Bergsteigen gefunden hat, denn gleich nach seiner allerersten Hochtour überhaupt, die ihn bereits zusammen mit uns auf einen 4000er führte, war die Frage da: „Was machen wir als nächstes?“.
Den Sommer hindurch hatten Astrid und ich Pläne, bei denen wir sonst niemanden gebrauchen konnten, weil wir genug mit uns selbst zu tun hatten indem wir uns an der Grenze unserer eigenen Fähigkeiten bewegten und meist die vorherrschenden Bedingungen noch eins drauflegten. So war ich nicht unbedingt traurig darüber, zum Abschluss mal was Entspanntes anzugehen. Der Termin war relativ schnell gefunden, denn das mittlere Septemberwochenende war noch nicht verplant. Allerdings gab’s von samstags auf sonntags keinen Platz mehr in der Hochvernagthütte, weswegen wir alles einen Tag nach hinten schoben und den Montag als Gipfeltag auserkoren. Ja, und wie beim Hüttennamen bereits zu vermuten ist, suchten wir die Hochvernagtspitze im Ötztal aus, deren Besteigung im Allgemeinen als nicht schwierig gilt, obwohl die letzten Meter zum Gipfel über einen etwas bröseligen, kurzen Grat führen. Das können wir mit Marcel in der Seilschaft gut vertreten. Der liebe Thomas, der uns im Jahr zuvor auf den Piz Kesch begleitete, konnte sich leider nicht freischaufeln.
In der Woche vor unserer Tour fanden wir nochmal die Gelegenheit, mit Marcel zusammen ein paar Basics der Gletscherbegehung zu üben, wie z.B. Aufbau einer losen Rolle oder eines einfachen Flaschenzugs zur Spaltenbergung, sowie das Aufsteigen am Seil in verschiedenen Varianten zwecks Selbstrettung nach einem Spaltensturz. Wir rechneten zwar nicht damit, dass es zu dieser Jahreszeit auf einem der vergleichsweise winzigen Gletscher in den Ostalpen so was noch braucht, weil sehr wahrscheinlich kein Schnee mehr auf dem Eis liegen wird, doch es schadet auch uns nicht, solche Dinge regelmäßig zu üben und nicht erst darüber nachdenken zu müssen, wenn so ein Fall eingetreten ist. War auch ein ganz netter Abend mit anschließend Bier und Grill, es war warm, die Sonne schien. Alles besser als Couch. Außerdem eine gute Gelegenheit, die Packliste durchzugehen und Marcel mit noch fehlender Ausrüstung auszustatten.
Eine kleine Unsicherheit bahnte sich mit Näherkommen des Wochenendes an: Nach wochenlangem stabilem Sommerwetter kündigte sich in der Wetterprognose eine Front an, von der nicht so ganz klar war, wann sie da sein und wie schlimm es werden wird. Als samstags vorher jedoch zumindest für den Montagvormittag noch ganz passables Wetter angekündigt wurde und eine gewisse Niederschlagsneigung eventuell mit Gewitter erst später am Nachmittag auftreten sollte, beschlossen wir, die Tour zu machen. Der Hüttenzustieg sonntags bleibt auf jeden Fall von der Front unberührt, die Höhenmeter und Schwierigkeiten von Hütte zu Gipfel gestalteten sich zumindest auf dem Papier so, dass wir spätestens gegen Mittag an der Hütte zurück sein müssten und ob ich nun im Abstieg auf einem Wanderweg ein paar Tropfen abbekomme, ist mir herzlich wurscht.

Die Rucksäcke sind dieses Mal nicht ganz so schwer. Wir brauchen nur wenig Material und weil es nicht mehr so heiß werden wird, konnte ein wesentlicher Gewichtsfaktor, das Wasser, etwas reduziert werden, zumal ich inzwischen auch keinen Schmerz habe, im Zweifel auf den Hütten Wasser nachzukaufen, bevor ich das Zeug literweise umsonst auf den Berg trage, so wie es mir am Piz Bernina passiert ist. Und so brechen wir sonntagsmorgens zu einer moderaten Zeit auf ins Ötztal mit Ziel Rofenhöfe im hinteren Venter Tal. Wir hatten sogar Glück und konnten tatsächlich auf der sehr kleinen Wiese vor den Höfen ein Plätzchen ergattern, auf dem das Auto bis zum nächsten Tag stehen bleiben kann. Sonst hätten wir entweder alle oder mindestens eine den nicht kurzen Weg mit ein paar zusätzlichen Höhenmetern von Vent her laufen müssen. Fein. Kein Stress.
Für den Hüttenzustieg entschieden wir, leichte Trailrunning-Schuhe zu nehmen und die Bergstiefel am Rucksack befestigt hochzutragen. Damit haben wir ganz gute Erfahrungen gemacht. Wenn der Zustieg keine besonderen Schwierigkeiten aufweist und durchgehend ein einfacher Wanderweg ist, der Rucksack leichter ist als sonst und die Fußmuskulatur stabil genug ist, macht das das Leben ein wenig leichter. Gegen 13 Uhr gehen wir los. Bis zur Vernagthütte sind es ab den Rofenhöfen zwar nicht so viele Höhenmeter, doch der Weg ist relativ lang und zieht sich ziemlich. Gleich zu Beginn gibt’s superschöne Pferdl zu sehen, denn auf den Rofenhöfen werden Haflinger gezüchtet, durch deren Salatteller der Weg führt. Danach wurde es mit anderen Lebewesen dann dünn, was ich persönlich allerdings mag und genieße. Kopf ausmachen, vor sich hin gehen, Gedanken nachhängen, in sich reinfühlen, wie es so läuft. Astrid war hingegen ein wenig aufgekratzt. Sie babbelt die ganze Zeit im Aufstieg zur Hütte, bis es ihr selbst auffällt, woraufhin sie sich bei Marcel erkundigt, ob ihn das wohl nervt. Der ganz trocken: „Das sei schon ok, ist ein bisschen, wie Radio.“
Macht das Latschen kurzweiliger. Wir lachen uns tot. Der Spruch wird uns noch eine Weile begleiten. Radio Astrid.

Was Astrid und ich sofort bemerken, Marcel ist fitter als wir ihn im Zustieg im Sommer zur Almagellerhütte erlebten und es ist sogar so, dass ich nahezu die Beine in die Hand nehmen muss, um auf der etwas flacheren aber langen Etappe am Vernagtbach entlang dran zu bleiben. Er hat sich über den Garmin Coach einen Trainingsplan erstellen lassen und den auch konsequent durchgezogen, was in der kurzen Zeit schon enorm viel gebracht hat. Finde ich klasse und hat auch mich dazu motiviert, auf diese Art und Weise zu versuchen, wieder den Zugang zum Laufen zu finden. Astrid und ich haben zwar unter anderem wegen der Tour zum Piz Bernina wieder damit begonnen, häufiger zu laufen, doch mein Kopf kam damit überhaupt nicht klar, weil er selbstverständlich davon ausging, sehr schnell an die Zeiten und Distanzen aus meinen damaligen Marathontrainings anknüpfen zu können. Weit gefehlt. Ich bin inzwischen über 10 Jahre älter, jahrelang praktisch gar nicht mehr gelaufen und das ist ein wirklich gravierender Unterschied. Der Ehrgeiz gepaart mit der unerfüllbaren Erwartungshaltung führten sehr schnell dazu, dass meine Gelenke, Sehnen und Bänder rebellierten, was kaum in den Griff zu bekommen ist, wenn der Schaden angerichtet wurde. In der Beziehung hat mich die Tour weitergebracht, denn gleich danach startete ich das Training unter Anleitung so, als sei ich noch nie einen einzigen Meter gelaufen. Aber zurück zum Thema.
Was uns auf dieser Tour ebenfalls begleitete, waren eine Unmenge an Chuck-Norris-Witzen, die wir uns immer wieder um die Ohren hauten. Flach aber gut. Ich darf einen meiner Favoriten zitieren: „Chuck Norris hat bis Unendlich gezählt. Zwei Mal.“
Was bei diesem Hüttenzustieg ein bisschen gemein ist, die Hütte ist zu sehen, sobald man in den Pfad am Bach entlang einbiegt, doch egal, wie zügig Frau unterwegs ist, das Ding kommt eine ganze Weile einfach nicht näher und dann erscheinen sogar wenige hundert Höhenmeter als nahezu unbewältigbar. Kurz unter der Hütte sprechen wir über das Thema und es wird klar, dass es nur mit dem Kopf zu tun hat. Der Zustieg zur Écrins- oder Rothornhütte war auf einem deutlich höheren Niveau jeweils mehr als doppelt so lang und wir haben’s auch hinbekommen.

Nach gut 2,5h, was wirklich nicht viel ist, erreichen wir den Eingang zur Hütte. Nach dem Trubel, der hier noch einen Tag zuvor geherrscht haben muss, ist sie nun am Sonntagnachmittag nahezu leer. Der vorletzte Tag der Saison. Wir legen uns trocken, melden uns an, beziehen unser Bettchen in einem 4-Bett-Zimmer, ich freue mich, dass die Sanitäreinrichtungen wohl vor nicht allzu langer Zeit modernisiert wurden und für die Damen sogar ein eigener kleiner abschließbarer Waschraum zur Verfügung steht. Das ist Luxus. Dann ist Zeit für Kaffee&Kuchen, den wir uns redlich verdient haben und den wir sogar noch auf der Terrasse verdrücken können, bevor es uns dann doch zu kalt wird, um draußen zu sitzen. Astrid, die ein wenig Rückprobleme hat, nutzt die Zeit für ein paar Yoga-Übungen, während Cappuccino und Kuchen reinlaufen. Kurz vor Abendessen ziehen wir nach drinnen um, sind fast allein im Speisesaal, was ich als sehr entspannt empfinde. Wir sprechen kurz über den Weg am nächsten Tag, schaufeln derweil das einfache aber sehr leckere Nachtessen rein und überlegen, dass wir relativ zeitig starten wollen, weil die Wetterprognose eher schlechter als besser geworden ist und so vereinbaren wir mit dem Hüttenpersonal, dass wir das frühestmögliche Frühstück nehmen wollen.
Wie üblich tue ich mich mit Schlafen ganz schön schwer, obwohl wir unter uns sein können und eigentlich nichts stört, denke ich so bei mir beim hin und her Wälzen. Doch es stört was. Draußen pfeift der Wind ganz ordentlich, was zu einem immer stärker werdenden Geklapper eines Fahnenmastes führt. Boah. Nerviger Mist. Z’fix. Jetzt wurd’s grad a bisserl warm unter der Decke, ich mag nicht aufstehen, doch das Geklapper wird immer schlimmer. Es stört nicht nur mich. Alle sind inzwischen wach oder im Halbschlaf und genervt. Das Fenster, das wir für den Sauerstoff in dem kleinen Zimmer auf Kipp stehen haben, muss geschlossen werden. Astrid versucht, es von ihrem Bettchen aus, erfolglos. Na gut, huift nix. Ich stehe auf und versuche, das Fenster zu schließen und zu verriegeln, damit’s a Ruah gibt. Blong. Griff lässt sich nicht drehen. Ich ziehe das Fenster wieder auf Kipp und haue es etwas fester zu. Blong. Wieder auf. Blong. Zu. Auf. Zu. Auf. Was ist das für ein blödes Ding. Gibt’s doch nicht. Warum klemmt es jetzt? Ich versuche es lieb mit Gefühl, hebe es etwas an, schiebe es soweit es geht in alle möglichen Richtungen, nix. Schließt nicht. Also noch einmal mit entschlossener Gewalt. Blong. Und wieder auf. Als ich kurz vorm Aufgeben bin, meldet sich Marcel aus seiner Koje, ob ich daran gedacht hätte, den Kleiderbügel weg zu nehmen, der da vorhin mit was zu trocknen drauf noch hing? Ähm, was für ein Kleiderbügel. Ah, der. Stimmt, da hängt ein Kleiderbügel, den Astrid im Dunkeln tastend findet. Kurz vorm Drücken des roten Knopfes für die Atomrakete, biegt eine so lächerlich einfache Lösung ums Eck. Zack, Kleiderbügel weg, Fenster zu, Ruhe. So einfach, wie einen Elefanten in den Kühlschrank zu stellen. Die Problemlösefähigkeit nimmt in der Höhe bei Schlafmangel im Dunkeln offensichtlich nicht zu.

Ein leckeres Frühstück läuft am nächsten Morgen rein und um 6:35Uhr drücke ich meine Uhr an, nachdem ich sie auf die Höhe kalibriert habe, wobei ich bereits deutlich den gesunkenen Luftdruck bemerke. Ich bleibe aber zuversichtlich, denn bis zum Gipfel gibt es keine nennenswerten Schwierigkeiten und es sind nur wenig mehr als 800 Höhenmeter. Also eigentlich ein Spaziergang. Nach Rücksprache mit dem Hüttenwirt sind in den letzten Tagen viele zur Hochvernagtspitze gegangen und es müsste eine Spur sichtbar sein. Dann kann ja nix mehr schiefgehen. Kurz hinter uns startet noch eine Zweierseilschaft in die gleiche Richtung, womit wir tatsächlich in Summe nur 5 Menschlein an dem Tag mit dem gleichen Ziel sind. Die beiden überholen uns sehr bald und werden in dem vor uns liegenden Geröll fast unsichtbar, denn es ist trüb und eintönig und der anfangs gut ausgetretene Pfad ändert bald sein Erscheinungsbild als die Felsbrocken mehr werden und die Wegsuche beginnt. Es gibt zwar Steinmanndl, doch die gehen in dem Einheitsbild aus rötlichem Gestein nahezu unter und Frau muss schon sehr genau die Augen aufhalten, um auf Kurs zu bleiben. Irgendwann kommt das Eis des Vernagtferners in Sicht und wir erspähen auch die beiden anderen vor uns wieder, was uns dazu veranlasst, ihrem Weg zu folgen. Nun, nicht die beste Entscheidung, denn kurz vor dem Eis verwandelt sich der steinige Untergrund in eine gefühlt bodenlose Schlammpfütze und bis ich auf festen Untergrund treffe, wo ich meine Steigeisen anlegen kann, muss ich mehrmals meine bis zum Knöchel eingesunkene Stiefel aus dem Batz ziehen. Etwas weiter links wären wir durchgehend auf felsigem Untergrund bis zum Eis gelangt. Wir merken uns für den Rückweg, dass wir etwas länger geradeaus auf den rechten Rand des Eises zugehen bis wir das Geröll erreichen, womit wir dem Schlamm entgehen müssten. Jetzt Steigeisen. Schnee ist keiner mehr auf dem Gletscher, dafür jedoch jede Menge Wasserrinnen, was das Gehen mit Steigeisen sehr anstrengend macht. Zumal ich mit den Bändern in meinen Füßen ein Thema hab‘ und wirklich jeden einzelnen Schritt mit Bedacht setzen muss, um nicht ungewollt dem höheren Kipppunkt zum Opfer zu fallen, weil die Zacken der Steigeisen nicht ganz ins Eis gedrückt werden können. Die beiden vor uns verschwinden derweil erneut am Horizont.

Bis um den ersten Felsriegel, der zu übersteigen ist, herum, ist die Wegfindung einfach, eine Spur, die vorhanden sein soll, sucht Frau auf aperem Eis selbstredend vergeblich. Dann müssen wir jedoch ein wenig suchen bzw. folgen einfach unserem Instinkt, um einen günstigen Weg über und durch diese Felspassage zu finden, die nur mit wenigen bis keinen Steinmanndln markiert ist. Auf dem höchsten Punkt in den Felsen angekommen, wird es dann wieder einfacher, weil der Gipfel in Sicht kommt und der weitere Weg kaum Fragen aufkommen lässt. Wieder auf dem Eis folgt bald der einzige etwas anspruchsvollere Teil, denn es gilt eine steilere und spaltigere Passage zu überwinden, von der ich zwar wusste, die ich aber deutlich einfacher einstufte als sie sich nun darstellt. Hinzu kommt ein weiteres Fragezeichen, dass Astrid und mir bereits eine Weile aufgefallen ist: Marcel kämpft ein wenig mit der Höhe. Er war seit dem Weissmies-Abenteuer nicht mehr so hoch im Gegensatz zu uns beiden und wir müssen Acht geben, dass wir ihn nicht überfordern, gerade wenn jetzt das Eis auch noch steiler wird, dass aus unserer Perspektive nahezu bedrohlich wirkt. Also alles einen Schritt langsamer und mit Bedacht. Wir gehen zunächst bis dorthin, wo der Winkel sich deutlich verändert, erklären, wie das mit den Frontalzacken so geht und dass es auch hier, wie auf einem Wanderweg, klug ist, Stufen zu suchen, die es in Form von Rinnen, Dellen und sonstigen Kanten im Eis gibt, wo der Fuß flach ganz drauf passt. Wir klären, ob es sinnvoll ist, am Seil zu gehen und entscheiden, dass es nicht nötig ist, weil es eine Auslaufzone gibt und das Eis natürlich beim Näherkommen nicht so steil ist, wie es von unten ausgesehen hat. Laut Karte dürften es im Schnitt etwa 35° sein, vielleicht bis 40° auf kurzen Stücken, Spalten gibt es erstmal keine, alle haben einen Eispickel in der Hand. Später, als wir in die Nähe des oberen Knicks stoßen, wo es wieder flacher wird, gibt es Spalten und die sind teilweise mit Altschnee überdeckt. Hier wird das erste Mal eine Spur ansatzweise sichtbar und hier entscheiden wir uns dann auch fürs Seil, denn es wäre fahrlässig, auf den letzten Metern zum Gipfel einen ungesicherten Spaltensturz zu riskieren. Die Zeit ist ziemlich vorangeschritten, trotzdem hängen wir ein paar Minuten dran. In der Ferne rollt bereits unverkennbar die Front an, deutlich früher als es die Prognose vermuten ließ und auf jeden Fall ein Kriterium, dass wir im Auge behalten müssen.
Der kleine Gipfelgrat ist nun zu sehen, die beiden vor uns kraxeln da gerade rum, sind aber schon auf dem Rückweg vom Gipfel und wir treffen ziemlich zeitgleich an Einstieg zusammen. Astrid und ich erfragen ein paar Informationen zur Kletterei, um abschätzen zu können, wie lange wir etwa brauchen werden, wenn wir sichern müssen. Die beiden haben rauf ungesichert etwa eine halbe Stunde gebraucht und zurück etwa 15 Minuten. Upsi. Das werden wir nicht schaffen und wir sind nun schon gute 3,5 Stunden unterwegs. Eigentlich sollten wir spätestens jetzt am Gipfel stehen, doch es läge geschätzt noch mindestens eine dreiviertel Stunde vor uns bis dorthin und in der Ferne ist bereits der Regen mit der sinkenden Wolkendecke zu sehen, die sich sehr schnell auf uns zu bewegt. Auch wenn das Gipfelkreuz in greifbarer Nähe ist, so ist unbedingt zu verhindern, dass wir in den Wolken über den Gletscher gehen müssen, was ziemlich sicher passieren wird, wenn wir jetzt zum Gipfel weitergehen. Mein Bauch möchte das nicht. Die beiden anderen beginnen ihren Rückweg und wir besprechen unsere Optionen in der Gruppe, was relativ schnell zu der Entscheidung führt, dass es hier gut ist und wir ebenfalls absteigen sollten. Das ist natürlich eine schwere Entscheidung, doch auf die Alternative -da bin ich mir sehr sicher- hat niemand Lust.

Das Seil ist noch zwischen uns und so drehen wir uns einfach grad um, wie wir sind und beginnen den Abstieg übers Eis. Der Weg nach unten geht etwas zügiger, gleichzeitig wird immer deutlicher, dass es die richtige Entscheidung gewesen ist, denn die Wolkendecke verfolgt uns nun regelrecht und lässt immer mehr der hinter uns gelegenen Strecke verschwinden. Das steile Stück kommen wir ganz gut runter. Wichtig ist, möglichst alle Krallen mit Zehen Richtung Tal ins Eis zu bekommen, dann hält das bombe. Einen kurzen Stopp legen wir ein, als wir die anderen beiden erneut treffen, die sich mit ein paar Sicherungsthemen im Eis beschäftigen. Eine gute Gelegenheit zu zeigen, wie eine Abseilstelle im Eis hergestellt wird und Marcel darf hier mal seine neue Eisschraube ins Eis drehen, um zu erleben, wie das geht und dass das Ding tatsächlich bombenfest sitzt. Dann aber schnell weiter, vom Eis runter in den Felsriegel, dort überholen uns die anderen beiden wieder und nach etwas Gekraxel erreichen wir den Übergang auf den Vernagtferner, auf dem wir im einsetzenden Regen weiter absteigen. Es folgt die nicht enden wollende Knirscherei übers blanke Eis. Unterwegs kommt eine überraschende Frage von Marcel an Astrid: „An was denkst du eigentlich, wenn du hier so vor dich hin gehst?“
Astrid überlegt kurz und antwortet für mich wenig überraschend mit: „Nichts.“ Das ist ein zentraler Punkt, warum wir gerne in den Bergen unterwegs sind. Es gibt wenig bis keine überbordenden Reize, die Landschaft ist einfach, gleichzeitig müssen wir so bei der Sache sein, dass alles andere, sei es Arbeit, Probleme, Sorgen, für eine ganze Weile einfach komplett im Hintergrund verschwinden und keine Rolle mehr spielen. Ein Reset-Knopf. Marcel bestätigt, das sei ihm auch schon aufgefallen. Alles was für den Moment keine Rolle spielt, ist einfach nicht da. Hat fast was Spirituelles.
Wir erreichen das Geröllfeld, wo die Steigeisen runter können, eine Wohltat, und von wo aus es mit ein wenig Sucherei durch die Felsen zurück auf den Pfad zur Hütte geht. Inzwischen regnet es volle Kanne und wir weichen so langsam ganz durch. Ein Blick zurück nach oben, es ist nichts mehr zu sehen. Der gesamte Weg ist in den Wolken verschwunden. Alles richtig gemacht. Etwa eine dreiviertel Stunde ist es nun noch bis zur Hütte, bei der der Kopf wieder vollständig ausgemacht werden kann, um den prasselnden Regen genießen zu können. Kleiner Scherz. Bei so einem Wetter fühle ich mich immer noch ein bisschen kleiner als ich mich eh schon im Hochgebirge fühle. So ein bisschen verloren. Als ob es kein Ziel gäbe. Frau verschwindet komplett in der Umgebung, so als ob sie nicht da wäre. Wichtig ist nur, immer weiter einen Fuß vor den anderen zu setzen, nicht aufzugeben und nicht die Zuversicht zu verlieren. Klingt etwas übertrieben, denn wir sind natürlich nicht in unnahbarer Wildnis unterwegs, doch in dem Moment fühlt es sich so an. Schiene die Sonne, wären andere Menschen da und sähe Frau kilometerweit, wäre das ganz etwas anderes.

An der Hütte angekommen, hängen wir im Trockenraum, in dem inzwischen der Holzofen angefeuert wurde, unser nasses Zeug auf, bevor wir in die Gaststube wechseln, um etwas Energie in Form von Pasta Ragout oder einer warmen Suppe reinlaufen zu lassen. Tut gut und macht den Weiterweg zurück zu den Rofenhöfen erträglicher. Das zurückgelassene Übernachtungsgeraffel kommt wieder in die Rucksäcke, die damit fast ihr Ausgangsgewicht erreichen und dann geht’s los. Gute zwei Stunden müssen wir nun nochmal in den immer noch feuchten Klamotten durch den Regen wackeln, doch es ist immerhin nicht so kalt und tatsächlich lassen die Tropfen irgendwann nach, so dass Frau eigentlich nicht mehr von Regen sprechen kann. Die Laune lassen wir uns davon eh nicht verderben.
War ein feines Wochenende auch wenn es mit dem Gipfel nix wurde, doch der Berg liegt so nah, dass wir uns sicherlich nochmal auf den Weg machen, zumal ich das Ötztal gerne mag.

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