Sustenhorn, 3502m, und Startplatz am Gwächtenhorn, ca. 3200m, 27.08.-29.08.2024
Nachdem wir 2 Wochen mit meinen Mädels in unserer Holzhütte verbracht und die beiden wieder zurück ins Saarland gebracht hatten, starteten wir montags von dort aus in die Schweiz. Dummerweise handelte ich mir in der zweiten Woche mit meinen Kindern eine leichte Erkältung ein, weswegen wir entschieden, nicht gleich am ersten Tag schon auf die Tierberglihütte aufzusteigen, sondern es erstmal ruhig angehen zu lassen, indem wir den ersten Tag für eine gemütliche Anfahrt nutzten, uns ein Zimmer im Haslital für die erste Nacht buchten und von dort aus nur noch eine kurze Anfahrt zum Parkplatz Umpol auf dem Weg zum Sustenpass hatten.
Die Übernachtung im B&B Triftblick in Nessental-Gadmen kann ich sehr empfehlen. Das Haus ist zwar alt, ein ehemaliges Schulhaus aus den 50iger Jahren des letzten Jahrhunderts, doch die Zimmer sind ganz neu und modern hergerichtet und nicht irgendwie zusammengeschustert, wie wir das sonst von der Schweiz kennen, die Chefin ist voll nett, die Hauptstraße ist so weit entfernt und wenig befahren, dass frau davon nix mitbekommt und auch das inbegriffene Frühstück lässt keine Wünsche offen.
Abendessen können wir dort nicht bekommen, doch fußläufig gibt es die wohl besten Rösti der Schweiz in einem kleinen Restaurant, das wir schon bei der Auffahrt bemerken und das lustigerweise von einem recht kommunikativen Franken geführt wird. Wir haben Spaß und die Rösti sind wirklich zu empfehlen.
Am nächsten Morgen brechen wir ganz ohne Eile und nach einem gemütlichen Frühstück auf zum Parkplatz, wo der Aufstieg zur Tierberglihütte beginnt und erreichen diesen nach dem Zahlen der Maut- und Parkgebühren für 3 Tage in nicht mal einer halben Stunde. Für alle, die da auch mal hinwollen: Nehmt reichlich CHF oder EUR in Hartgeld mit. Der Automat kennt weder Scheine noch elektronische Bezahlverfahren und wechselt nicht, dafür nimmt er aber auch Euro. 3 Tage Parken + Maut waren so etwa 20 CHF.
Aufgabe Nummer 1, als wir die 3 aufeinanderfolgenden Parkplätze abfahren, ist, Ausschau nach geeigneten Landemöglichkeiten zu halten, denn wir wollen zusätzlich zum Hochtourenequipment unsere Gleitschirme mit nach oben nehmen. Die Wetterprognosen sehen für den darauffolgenden Donnerstag, unserem Abstiegstag, so aus, dass es gut möglich sein könnte, entweder am Sustenhorn oder dessen Nachbarn Gwächtenhorn mit den Gleitschirmen zu starten und per Flug sich den Abstieg zu ersparen. Deswegen wäre es günstig, in der Nähe des Parkplatzes ein Fleckchen Erde zu finden, das unter Berücksichtigung der Talwindsysteme für einen Endanflug und der Landung mit dem Schirm geeignet ist. Als Plan A identifizieren wir ein kleines Stück flaches Grün mit nicht so vielen Steinen drin in einem Bachmäander am mittleren der 3 Parkplätze, wo auch genügend Platz zum Abachtern und für einen hinreichend langen Endanflug ist. Plan B besteht aus dem Landen direkt auf dem obersten Parkplatz, abhängig natürlich von dessen Belegung am Landetag, wobei frau sich dort schon ziemlich in einem Kessel befinden würde, in dem es je nach Stärke des Talwindes und des überregionalen Windes recht turbulent zugehen könnte. Obwohl wir noch aus schwarzen Steinchen einen Peilpunkt auf den Parkplatz legen, verwerfen wir die Idee recht bald nach dem Losgehen als wir einen Überblick über die Lage haben.
Erstmal machen wir uns jedoch fertig für den Aufstieg zur Hütte. Priorität hat die Akklimatisierung für die anschließende Tour zum Zinalrothorn, weswegen wir mal ungeachtet des Umstandes, dass sich das Gewicht des Rucksacks mit Gleitschirm, Rettungsschirm und Gurtzeug drin fast verdoppelt, möglichst langsam die etwa 700-750 Höhenmeter zurücklegen wollen. Es steht für den Tag auch sonst nix an. Doch als ich den Rucksack versuche vom Boden zu heben, bin ich ehrlich gesagt froh darum, dass es heute „nur“ ein paar Höhenmeter sind, wenngleich auch der normale Weg in der oberen Hälfte ein paar Kletterstellen aufweist. Alternativ könnte Frau die Variante Klettersteig für den Zustieg wählen, was wir jedoch wegen des schweren Gepäcks gar nicht erst in Betracht ziehen. Ebenso verzichten wir darauf, mit den leichten Trailrunningschuhen loszugehen und die Bergstiefel am Rucksack hochzutragen, was sich in den letzten Jahren bewährt hat, wenn der Rückweg über die gleiche Hütte führt und wir für den Abstieg wieder auf leichte Schuhe wechseln können, was die Füße sehr mögen. Aber der Rucki ist eh schon sackenschwer und die Ansage lautet, langsam zu gehen und, wenn alles nach Plan läuft, müssen wir ja gar nicht runtergehen, sondern können runterfliegen. Hosenbeine hochgekrempelt, es ist recht warm in der Sonne, obwohl der Start schon über 2000m liegt und los.
Der Weg, den wir bereits kennen, weil wir vor vier Jahren schonmal auf dem Sustenhorn waren, ist ganz schön und abwechslungsreich, beginnend mit einem einfachen Pfad und nach etwa 300 Höhenmetern, ab dort wo der Klettersteig kreuzt, wechselt er dann mehr in felsiges Gelände, wo Frau auch schonmal die Hände braucht, um auf den letzten Metern zur Hütte wieder zu einem normalen Wanderpfad zu werden. Wir bemühen uns wirklich, langsam zu gehen, setzen Fuß vor Fuß, verausgaben uns nicht, machen eine längere Pause auf etwas mehr als der Hälfte der Strecke, sind aber trotzdem nach wenig mehr als 2 Stunden an der Hütte. Noch bevor diese erreicht wird, gibt es einen freien Blick auf den Steingletscher sowie die Anstiege zu den von dort aus erreichbaren Gipfeln und wir erschrecken ein wenig. Dort, wo wir vor vier Jahren im August entspannt über geschlossene Schneedecken gelatscht sind, klaffen heute riesige Spaltenzonen.
Die liebe Yvonne, bei der ich am Abend vorher telefonisch Plätze reservierte, empfängt uns in der Hütte, teilt uns zwei Bettchen für die nächsten beiden Tage zu, gibt Auskunft zum Nachtessen und wir beziehen unser Lager, legen uns trocken und verstauen unser Flugzeug ebenfalls im Zimmer. Weil die Hütte nicht mal zur Hälfte belegt ist, stört sich da niemand dran, denn uns ist wichtig, die Schirme, Retter und Gurtzeuge nicht im Materialraum zu lassen, wo jede und jeder freien Zutritt hat, die oder der an der Hütte vorbeikommt. Zeit für Kaffee/Kuchen. Wir versuchen es erst draußen, doch da weht es ganz schön kalt, so knapp auf 2800m, und wir ziehen nach drinnen um. Der Nachmittag zieht sich, wenn frau so früh oben ist, weswegen wir beschließen, uns einfach noch ein paar Stunden hinzulegen und Hörbuch zu hören, bis es Zeit fürs Nachtessen ist.
Bei uns am Tisch sitzt ein Mensch, der alleine wandern geht und bereits mehrere Tage zu Fuß und mit Öffis unterwegs ist und auf mehreren Hütten in der Gegend gewesen ist bis er hier landete. Viel mehr sprechen wir nicht bis auf die Höflichkeiten, die im Zusammenhang mit der Futterverteilung und dem Zurückbringen des Geschirrs notwendig sind. Das Gespräch am Nebentisch ist da etwas lebhafter und ich schnalle, dass jeweils ein Vater mit seinen jeweils zwei Kindern dort sitzen und am nächsten Morgen das gleiche Ziel haben, nämlich das Sustenhorn. Der Unterschied besteht darin, dass der ältere der beiden Väter, Hans-Rüedi, so etwa auf die 80 zugeht oder mindestens über 70 ist und seine beiden Töchter erwachsen sind und selbständige Leben führen, wohingegen der andere Papa, Martin, ein wenig älter als ich ist und seine Kinder Felix (16) und Liv (12) im Schlepptau hat, um sie das erste Mal auf eine Gletscher-/Hochtour mitzunehmen. Beide Väter haben ihren Erzählungen zu Folge reichlich Bergerfahrung. Das jüngere Trio ist über den Klettersteig raufgekommen, wo Felix seine Sonnenbrille verloren und für die Gletschertour nun keine zur Verfügung hat, und Liv ist noch unentschlossen, ob sie überhaupt mit auf den Gletscher will und entscheidet sich abends erstmal dazu, auf der Hütte zu bleiben und bei der Betreuung des noch recht kleinen Sohnes des Hüttenwartpaares zu unterstützen. Kurz bevor es ins Bettchen geht, kommen wir mit den 6 ins Gespräch, outen uns als Gleitschirmpilotinnen, was für Unterhaltungsstoff sorgt und erzählen, warum wir hier sind und weil es wahrscheinlich ziemlich spaltig werden könnte am nächsten Tag, fragt Martin, ob wir zu viert am Seil gehen können, denn sein Sohn Felix hat keinerlei Gletschererfahrung. Nun, klar. Können wir tun, bedeutet auch für uns mehr Sicherheit, wenn die vorherrschenden Bedingungen nicht so ganz bekannt sind, obwohl wir am Nachmittag schon von einem anderen Bergsteiger erfahren haben, dass es überraschend wenig Spaltenprobleme gibt, wenn Frau in der von hier aus schlecht sichtbaren, aber doch vorhandenen Spur bleibt und nicht versucht, Abkürzungen zu finden. Aber, wie gesagt, wir haben die Tour schonmal gemacht und sind ziemlich entspannt, weil es sich im Wesentlichen um eine Schnee- bzw. Eiswanderung handelt und Zeit wenig bis keine Rolle spielt. Wir verabreden uns für den nächsten Morgen zum gemeinsamen Frühstück und auch Hans-Rüedi wird mit seinen Mädels zur gleichen Zeit aufbrechen, womit wir die einzigen sieben Menschlein wären, die am nächsten Tag auf diesen Gipfel wollen, wie ich feststelle.
Flugwettercheck in der BurnAir App: Passt noch für Donnerstagfrüh.
Ein besonders frühes Frühstück, wie wir es sonst auf unseren Hochtouren kennen, braucht’s hier nicht, weswegen wir uns erst gegen 5:30Uhr an den Frühstückstisch setzen. Der Hüttenwirt hat am Abend zuvor zum Apero vor dem Nachtessen bereits darum gebeten, dass niemand im Dunkeln losgeht, weil es einfach unsinnig ist, bei diesem Berg im Dunkeln durch irgendwelche Spaltenzonen zu torkeln. Wo er Recht hat, hat er Recht. Bis zum Gipfel sind es kaum 800 Höhenmeter mit allen An- und Abstiegen, ohne besondere Schwierigkeiten oder Gefahrenzonen und außerdem wäre der Tag noch so ewig lang, wenn Frau zu früh an der Hütte zurück ist. Überraschenderweise sitzt Liv als erste im Frühstücksraum und ich ahne, dass sie ihre Entscheidung vom Abend zuvor revidiert hat und doch mit aufs Eis will. Felix ist damit beschäftigt, eine Lösung für seine fehlende Sonnenbrille zu finden und kann Yvonne von der Hütte dazu gewinnen, ihm ihre Brille für den Tag zu überlassen. Kurz vor Ende des Frühstücks kommt’s tatsächlich so, dass Liv sich fürs Mitgehen entscheidet und ich kann überhaupt nicht einschätzen, ob das eine gute Idee ist und eventuell unser Vorhaben zur Akklimatisierung gefährdet, doch das finden wir nur heraus, wenn wir starten. Martin fragt uns, ob’s für uns in Ordnung ist. Wir stimmen zu. Während Liv damit beginnt, ihre Sachen zu packen, drückt uns ihr Papa ein 70m Seil in die Hand, mit der Bitte, es schonmal mit runter auf den Gletscher zu nehmen und für die Seilschaft zu fünft vorzubereiten. Unser eigenes 40m Seil nehmen wir trotzdem zusätzlich mit, denn ich habe so das Gefühl, dass wir es brauchen werden und so bepackt wackeln Astrid und ich schonmal los, den kleinen Abstieg auf den Gletscher hinunter und beginnen damit, alles vorzubereiten, wobei das ziemlich schnell erledigt ist, weil außer Steigeisen an die Schuhe tüddeln und Seil vorbereiten nicht wirklich was zu tun ist. Ein paar Minuten später kommen auch die anderen drei den rutschigen Pfad, der auf den Gletscher führt, runter zu uns und beginnen damit, sich herzurichten. Es ist ein buntes und vor allem altes und schweres Sammelsurium, was die drei so an Ausrüstung haben, insbesondere die Steigeisen, die mit langen Bändern und einem Haufen Ösen irgendwie an die Schuhe geknotet werden, stellen die Jugendlichen vor teilweise unlösbare Probleme. Wir helfen mit. Ich erzähle währenddessen ein bisschen was übers Gehen am Seil und mit den Steigeisen, weil die beiden Jugendlichen das allererste Mal auf Steigeisen stehen. Etwa eine halbe Stunde später als geplant knirschen die ersten Schritte mit den Steigeisen im Eis. Es geht los. Ganz kurz vor uns startet auch Hans-Rüedi mit seinen Töchtern, deren Equipment eher noch ein wenig älter erscheint und wie wir bald merken, nicht passen. Aber das soll jetzt mal nicht unsere Sorge sein. Astrid geht voran, macht ein ganz moderates Tempo, bei dem alle mitkommen, dann folge ich, hinter mir Felix und Liv und Martin läuft ganz am Schluss.
Zunächst ist ein fast spaltenfreier, aperer Eisbuckel zu queren, eine Felsrippe zu übersteigen und eine kleine Senke zu durchqueren, in der in der Früh schon das Wasser, wie in einem kleinen See steht, bevor es das erste Mal ein wenig steiler und im folgenden Schneehang eine Spur sichtbar wird. Bis ans erste etwas steilere Schneefeld haben wir schon gefühlt fünf Mal angehalten, weil Liv offensichtlich mit sich selbst nicht ganz im Reinen ist. Aber Martin schafft es immer wieder, sie zum Weitergehen zu bewegen. Bevor wir in den ersten Hang hinein aufsteigen, kommen die Pickel raus, ich erkläre Felix, was zu tun ist, falls er ins Rutschen kommt und dass sowohl Seil als auch Pickel nach Möglichkeit bergseits zu führen sind. Hans-Rüedi hat derweil auch schon zum x-ten Mal die Steigeisen bei einer seiner Töchter neu sortiert, doch was ich später lerne, es wird nicht helfen, denn sie hat weiche Wanderpatschen ohne Kipphebelaufnahme an und soll mit halbautomatischen Eisen daran den Berg hochlaufen. Das kann nicht funktionieren.
Es geht weiter, wir folgen der Spur, wie uns empfohlen wurde, die im Aufschwung rechts an einer Spaltenzone und sehr nahe an einer Felswand des Gwächtenhorns vorbeiführt und ein, zwei größere Spalten quert. Kein Ort, an dem Frau lange rumstehen sollte, den es rumpelt unablässig und der Boden ist übersäht mit kleinen Steinen. Ich kläre Felix auf, was wir hier gerade erleben und warum wir zügig durch diese Passage ohne stehenzubleiben durchsteigen sollten. Liv hat starke Zweifel und Motivationsprobleme, weil sie auch einfach keine Ahnung davon hat, was hier gerade passiert, was absolut verständlich ist. Sie schafft es trotzdem, den kompletten Weg heraus über diese erste steilere Stelle durchzugehen, doch als wir auf einem sicher erscheinenden Absatz eine kleine Pause in der inzwischen aufgegangenen Sonne einlegen, kommt die Info von Martin, dass sie so nicht weitergehen können. OK, das verstehe ich, denke kurz darüber nach, ob es safe ist, wenn die beiden allein zurückgehen, oder ob das das Ende der Tour für uns alle bedeutet. Er kommt mir zuvor. Für ihn passt’s, wenn er mit seiner Tochter alleine wieder runter und zur Hütte zurückgeht, fragt gleichzeitig aber auch, ob wir Felix weiter mitnehmen können? Astrid und ich sind uns da schnell einig, dass wir das mit ruhigem Gewissen tun können und für Felix ist’s auch in Ordnung, mit zwei wildfremden Damen auf seinen ersten 3000er zu gehen. Nu dann. Wir seilen ab, übergeben Martin sein langes Seil und klöppeln uns als Dreierseilschaft in unser eigenes Seil ein. Ich glaube, an der Stelle haben auch Hans-Rüedi und seine Töchter umgedreht, denn ich habe sie später nicht mehr gesehen. Astrid erkundigt sich bei Felix, wie es so um seine körperliche Verfassung und Belastbarkeit steht und ob er regelmäßig Sport macht, was uns vielleicht einen Eindruck davon verschafft, ob er der Herausforderung gewachsen sein kann. Passt alles. Es kann weiter gehen. Wir entscheiden uns dazu, der Spur im Schnee zu folgen, statt einen kürzeren durch die nächste Spaltenzone zu suchen, auch wenn das einen gewissen Umweg bedeutet und wir oberhalb der Spaltenzone relativ lange flach durch ein Gletscherbecken hatschen müssen. Wir füttern Felix nahezu unablässig mit Input zum Gehen am Berg, worauf zu achten ist, warum Frau trotz vorhandener Spur immer den Kopf einschalten sollte, dass Frau ihre Handschuhe niemals einfach in den Schnee werfen sollte, wenn sie sie auszieht, dass Frau bei einer Pause auf dem Gletscher niemals zu den anderen in der Seilschaft aufschließen, sondern genau da stehen bleiben soll, wo gerade angehalten wurde, kein Schlappseil zwischen den Bergsteigenden, vorhandene Stufen verbessern, hängende Fersen beim Frontalzackeneinsatz, bergab im Eis immer alle Krallen rein, Fußspitzen talwärts, Abwägung von Risiken und entsprechende Sicherungswahl und vielleicht sogar eher ein Verzicht auf eine Sicherung, Abstände von Wechtenrändern, usw. Er saugt alles auf und mich beeindruckt, dass er auch sofort alles umsetzt, ohne dass ein zweites Wort nötig wird. Für Jungs in dem Alter eher ungewöhnlich, finde ich.
Auf dem Weg zum Gipfel kommt eigentlich nur noch eine etwas spannendere Stelle vorbei. Im Prinzip ein Bergschrund, der im herkömmlichen Sinne nicht umgangen und auch nicht überstiegen werden kann, am Rand zu den anschließenden Felsen jedoch einen Windkolk aufweist, durch den Frau quasi durch ihn hindurch steigen kann. Der obere Ausstieg erscheint relativ steil, doch wir versichern Felix, dass das kein Problem werden wird, weil es a) nicht so steil ist, wie es aussieht, Stichwort Perspektive, und b) gute, feste Stufen von unseren Vorgängern getreten sind. So ist es dann auch, wir steigen einfach am Seil alle drei ohne Probleme durch, gelangen auf das letzte Eisfeld, bevor der felsige Gipfelaufbau startet, lassen am Rand zum Schutt unsere Steigeisen zurück und gehen die letzten Meter über Schutt und Felsen zum Gipfel hinauf, wo wir erstmal ganz alleine sind. Felix hat auf den letzten Metern ein wenig gekämpft und ist sichtlich stolz, dass er es bis hier rauf geschafft hat. Zu Recht. Hat er wirklich gut gemacht.
Gipfel Sustenhorn, 3502m.
Auf dem letzten Stück Weg hielten wir immer wieder Ausschau nach einem geeigneten Startplatz, denn sollte der Wind wider Erwarten doch eher aus Nordwest kommen, ist es geschickter, irgendwo am Anstieg zum Sustenhorn den Schirm auszulegen, doch alle in Frage kommenden Bereiche sind blankes Eis oder zu steil, ein Start ohne Steigeisen damit zu gefährlich.
Mein Telefon klingelt. Mama. Da sollte ich wohl mal rangehen. Während ich telefoniere, kommt eine Zweier-Damen-Seilschaft über den Ostgrat hinauf zum Gipfel. Eine tolle Sache, dass es immer mehr reine Frauenseilschaften gibt, die mitunter richtig schwere Sachen am Berg erfolgreich unternehmen.
Nachdem wir gegessen und getrunken und uns an der Aussicht satt gesehen haben, starten wir den Abstieg, der damit beginnt, erstmal zum Rand des Schnees zurück zu gehen, wo unsere Steigeisen auf uns warten. Astrid und ich sind schnell fertig, haben auch das Seil schon wieder parat, doch Felix wurschtelt minutenlang an seinen Bändeln an den Steigeisen rum und flucht und kommt irgendwie nicht zum Ende. Wir schauen uns das Dilemma zu dritt an, ziehen mal hier das Band durch die Öse, die eigentlich ganz woanders sein sollte, fädeln über den Schuh an die gegenüberliegende Seite, wo die Öse sein sollte aber nicht ist. Komisch. An dem anderen Fuß hat’s doch auch geklappt. Nochmal hinten irgendwo durch, nochmal nach vorne und dann, endlich, scheint es, als sei das Ding festgezurrt. Schaut merkwürdig aus, ist aber fest. Die anderen beiden fummeln noch an den Bändern rum, als ich mal etwas Abstand nehme und dann dauert es zwei Sekunden, bis ich merke, was hier anders ist als an dem anderen Fuß. Kurz überlege ich, ob es richtig ist, dass das Steigeisen auf dieser Seite keine Frontalzacken hat und dann klickt es kurz in meinem Gehirn: Dreh doch einfach das Steigeisen um, denn hinten nutzen die Frontalzacken nix. Bling. Kurz Stille, dann lachen wir uns tot, als ich vorschlage, das Steigeisen einfach umzudrehen.
Nachdem das geklärt und alle Steigeisen fest an den Schuhen sind, gehen wir den gleichen Weg zurück, den wir hochgekommen sind, werden zwischenzeitlich von der Zweierseilschaft überholt, die wesentlich zügiger unterwegs ist, steigen durch den Windkolk durch, was einwandfrei vorwärts geht, gelangen auf das lange, flache Plateau, dessen Überquerung sich etwas hinzieht, während die beiden Frauen in der Ferne verschwinden, bewältigen den kleinen Gegenanstieg um die obere Spaltenzone herum, und finden die Abstiegsspur wieder, auf der wir aufgestiegen sind. Vom Gwächtenhorn gegenüber kommen mehrere Menschen fast ganz in schwarz am Seil den Berg runter. Schaut wie Militär aus ist mein erster Gedanke und ist auch Militär, wie sich später herausstellt und was sich auch auf unseren geplanten Gleitschirmflug auswirkt, obwohl wir nach einem NOTAM bzw. ED-R Check erstmal keine Einschränkung für einen etwaigen Start und der geplanten Flugstrecke haben, sprich, wir vergewissern uns, ob es Flugverbotsbereiche gibt, die gegebenenfalls temporär für die offensichtlich stattfindende Militärübung eingerichtet wurden. Ist aber nicht so. Gleichzeitig hat der Helikopterverkehr ziemlich zugenommen und am Schießplatz unten wird den ganzen Nachmittag mit automatischen Waffen geschossen. Spooky.
Auf dem weiteren Abstiegsweg gibt’s keine Besonderheiten mehr, außer dass der Schnee ziemlich weich und der Badesee in der Gletschersenke tiefer geworden ist. Gegen 13:30 Uhr sind wir am Gletscherrand unterhalb der Hütte zurück, von dem aus wir am Morgen gestartet sind. Mission 1 der Akklimatisierung ist erfüllt, ohne dass wir uns kaputt gemacht hätten.
Nachdem Felix ausprobieren durfte, wie eine Eisschraube eingedreht wird und wie fest die dann sitzt, stiegen wir zur Hütte auf, breiteten unser ganzes mehr oder weniger nass gewordenes Zeug zum Trocknen in der Sonne aus, bevor es an den wohlverdienten Kaffee&Kuchen geht. Martin und Liv sind wohlbehalten an der Hütte angekommen, haben sich mit dem Schweizer Hütten Monopoly den Tag vertrieben und ich glaube, alle waren froh und ein wenig stolz, als Felix unbeschadet aber einigermaßen platt nach seiner ersten Gletschertour den Raum betritt. Hat er wirklich gut gemacht und uns beiden hat’s gefallen, einem jungen Menschen ein wenig Einblick ins Hochtourengehen zu geben.
Wir tauschen uns aus, erzählen von der Tour, Martin spendiert noch ein Getränk und weil der Nachmittag noch so lang ist und auch wir so ein kleines Bisschen durch sind, krabbeln wir für ein paar Stunden in unser Lager, hören ein wenig Hörbuch und Dösen so vor uns hin. Nochmal Wettercheck: sieht immer noch gut aus. Die Prognose steht jetzt mehr auf Nord, was dafür spricht, nicht bis auf den regulären Startplatz am Gwächtenhorn aufzusteigen, sondern etwas weiter unten die Lage zu prüfen.
Kurz vor dem Abendessen raffen wir draußen unsere Sachen zusammen, packen die Fliegesachen wieder in die Rucksäcke, denn der Plan verfestigt sich, es mit Runterfliegen zu versuchen. Zum Essen sitzen wir mit den anderen drei zusammen am Tisch und sprechen über unsere Entscheidung, am nächsten Morgen um die gleiche Zeit, wie heute, den gleichen Weg bis zum Abzweig zum Gwächtenhorn erneut mit dem Flugzeug auf dem Rücken aufzusteigen. Felix schaut etwas erstaunt und fragt, ob wir uns das wirklich antun wollen. Ja, wollen wir. 500 Hm Aufstieg mit Chance darauf, knapp 1200 Hm herunter zu fliegen zu können, statt zu laufen, motiviert uns und der Aufstieg allein ist ehrlich gesagt keine Herausforderung für uns, außer dass der Rucksack natürlich relativ schwer ist. Wir lernen lediglich, dass das Militär einen Bergungsflug mit Stopp an der Hütte plant, weswegen wir kurz mit Toni, dem Hüttenwart dazu sprechen und vereinbaren, dass wir telefonisch abstimmen, wann wir etwa starten können, ohne mit dem Heli in Konflikt zu geraten, was so in etwa gegen 10 Uhr vormittags der Fall sein wird. Das passt für uns, schließlich müssen wir ja auch noch rauflatschen und zu spät wäre das auch nicht mit Blick auf den Talwind, der mit aufsteigender Sonne spätestens gegen Mittag einsetzen wird. Zu früh brauchen wir ebenfalls nicht dran zu sein, weil es ohne Sonneneinstrahlung auf jeden Fall über dem Gletscher kalte Abwinde geben wird, bei denen wir nicht starten wollen.
Am nächsten Morgen stehen wir fertig gepackt, Steigeisen an, gegen 6 Uhr auf dem Gletscher und machen uns auf den Weg nach oben in Richtung Gwächtenhorn. Der letzte Wetterlauf in unserer Fliege-App bestätigt nach wie vor, dass die Chancen auf einen Start gut sind mit einem schwachen Nord-Nordost-Wind. Die Frauenseilschaft von gestern ist ebenfalls gestartet. Die beiden haben sich auf den Weg gemacht, das Gwächtenhorn über den Westgrat hinauf zu überschreiten.
Weil nach wie vor die Akklimatisierung im Vordergrund steht, gehen wir bewusst langsam, sind jedoch trotzdem etwa doppelt so schnell, wie am Vortag, nicht zuletzt auch deswegen, weil es bezüglich des besten Weges keine Fragen mehr gibt. Mir macht allerdings das Gewicht schon zu schaffen, weil die Eisfläche am Start nach links unten geneigt ist, die Steigeisen auf dem aperen Gletscher einen hohen Kipppunkt erzeugen und ich auf dem linken Fuß außen vermutlich wegen abgerissener Bänder nicht so richtig stabil bin. Ist ein wenig ein Gewürge bis wir um den Buckel rum, über die Felsrippe drüber, durch den Badesee bis zum ersten Anstieg gewackelt sind, wo dann endlich noch Schnee liegt, in den die Krallen ganz reingedrückt werden können und mein Gang etwas sicherer wird. Wie am Vortag nehmen wir erst hier den Pickel zur Hand, packen einen Stock weg und gehen langsam weiter über eine größere Spalte drüber am rechten Rand der Spaltenzone entlang. Noch ist alles relativ fest, wir haben keine Probleme. Es geht weiter auf der Spur, der wir gestern bereits nach oben folgten, an der nächsten Spaltenzone vorbei, auf den sich anschließenden kleinen Hügel hinauf und erst dort biegen wir nach rechts in Richtung Gwächtenhorn ab. In einem weiten Bogen steuern wir auf die nächste Rampe zu, von der wir vermuten, dass dort ein geeigneter Startplatz sein könnte. Ich muss zugeben, dass ich nicht wirklich motiviert bin, mit dem schweren Gepäck bis zum Gipfel des Gwächtenhorns hinauf zu steigen und freue mich insgeheim, so etwa 150 Höhenmeter unterhalb des eigentlichen Startplatzes eine gut geeignete Fläche mit Schnee gefunden zu haben, die alle Kriterien für einen erfolgreichen Start erfüllt. Astrid sieht das auch so. Es hat kaum zwei Stunden gedauert bis wir hier angelangt sind, obwohl es sich beim Gehen anfühlte, als kämen wir bei dem Tempo heute nirgendwo mehr an. Aber, hat alles gepasst. Eine Sache passt jedoch ganz und gar nicht. Der Wind kommt mit etwa 5 km/h aus Südwest, also gut spürbar von hinten, 180° aus der falschen Richtung. Blöd.
Wir bleiben erstmal ruhig, denn es ist noch früh, die Sonne scheint noch nicht so lange, das können die lokalen Phänomene sein, die es am Gletscher einfach gibt. Wir inspizieren unsere Startfläche, die ziemlich uneben ist und an der Vorderkante unmittelbar in eine Spaltenzone übergeht und weil wir viel Zeit haben, kratzen wir mit den Steigeisen zwei parallel verlaufende Bahnen in den Schnee, auf denen wir ohne Steigeisen laufen und somit gleichzeitig starten können. Das i-Tüpfelchen sind zwei Abbruchmarken, die wir am Rand in den Schnee graben, damit wir wissen, wann wir spätestens fliegen oder eben abbrechen müssen, damit wir nicht im Übereifer und mit der Aufregung im Nacken in einer Gletscherspalte sprichwörtlich landen.
Als das erledigt und ohne Schirm erprobt ist, beginnt das Parawaiting. Zwischenzeitlich stellen wir noch einen Stock auf den Startplatz mit einer Windfahne, um bloß keine Veränderung zu verpassen und Astrid meldet uns beim Hüttenwart an, dass wir startbereit sind, auf bessere Bedingungen und natürlich den Heliflug warten. Es wird halb neun. Es wird neun. Es wird halbzehn. Der Heli landet an der Hütte. Es wird zehn. Der Heli fliegt weg und kommt niedrig über den Gletscher fliegend in unsere Nähe vorbei, sodass wir wissen, dass es jetzt grünes Licht für uns gibt. Dummerweise hat der Wind von hinten bis dahin seine Richtung nicht geändert, doch seine Geschwindigkeit auf mehr als 10 km/h verdoppelt und es schaut nicht so aus, als würde sich daran heute etwas verändern. Wir treffen schweren Herzens kurz nach 10 Uhr die Entscheidung, dass Starten in absehbarer Zeit nicht wahrscheinlich ist, ziehen die Steigeisen wieder an, Packen zusammen, geben dem Hüttenwirt über unsere Entscheidung Bescheid, damit niemand auf zwei Gleitschirme wartet und schon gar nicht das Schweizer Militär und machen uns zu Fuß an den langen Abstieg. Knapp 1200 Hm bis zum Parkplatz Umpol mit Flugzeug auf dem Rücken liegen vor uns.
Meine größte Sorge bei der Aktion ist nicht der schwere Rucksack, sondern dass ich mir Blasen laufen könnte, die mich beim Versuch, in wenigen Tagen das Zinalrothorn zu besteigen, negativ beeinflussen. Der Muskelkater, den wir hier sicher davontragen werden, ist da eher ein untergeordnetes Thema. Immerhin drängt die Zeit nicht, es ist noch relativ früh am Tag, eine Gewitterneigung ist nicht vorhergesagt und auch sonst sind wir keinen nennenswerten objektiven Gefahren ausgesetzt. Also, langsam gehen. In kleinen Häppchen denken. Ziel Nummer 1 ist, vom Gletscher runterzukommen, was bei etwa 500 Höhenmetern jetzt nicht so die große Herausforderung ist. Da wir schon alles im Rucksack und keine Sachen mehr in der Hütte haben, brauchen wir, vom Gletscher runter, nicht mehr den ganzen Weg zur Hütte zurückzugehen. Bis dahin fühlen wir immer noch den Rückenwind. Hat sich also nicht verändert. An der Weggabelung, wo der normale Wanderweg nach unten startet, rasten wir etwas, essen, trinken, krempeln die Hosenbeine hoch, entspannen und setzen danach unseren Weg fort. Nochmal etwa 700 Höhenmeter, teilweise zum Abklettern, meistens zum Gehen und je weiter Frau runterkommt, desto einfacher wird der Pfad. Trotzdem ist es ziemlich anstrengend, der Rucksack schiebt und verleiht einen wesentlich anderen Schwerpunkt, auf den ebenfalls geachtet werden muss, um nicht nach hinten zu kippen oder das Übergewicht nach vorne zu bekommen. Auf diesem Abstieg sind schon Menschen ums Leben gekommen. Ist noch gar nicht so lange her.
Die letzten 200 Höhenmetern geht’s in meinen Schuhen los. Die Zehen und Ballen beschweren sich, schmerzen mitunter. Wirklich tun kann ich nix, außer möglichst sanft aufzutreten und hoffen, dass es „nur“ Druckstellen und keine Blasen sind. Ich jammere ein wenig rum, gehe aber stets weiter, denn alles andere löst die Situation nicht auf und es dauert nicht mehr lange, bis wir die kleine Eisenbrücke überschreiten, an deren anderem Ende sich der Parkplatz anschließt, auf dem unser Auto parkiert. Boahh, Alter. Ich bin platt. Die ersten Menschen, die wir treffen, sind Martin, Felix und Liv, die am Morgen über den Wanderweg von der Hütte abgestiegen und tagsüber ein wenig hier an den Felsen geklettert sind. Sie laden uns zu Kaffee&Kuchen ein, denn sie stehen mit ihrem alten T3 Camper nur ein paar Schritte entfernt. Voll gut. Nach dem Trockenlegen einfach in den Schatten setzen und bedient werden. Was für ein Luxus. Ich biete als Gegenleistung an, ein paar Takte auf meiner Handpan zu spielen, denn das Instrument, an dem ich mich selbst erst seit ein paar Monaten versuche, kennen sie noch nicht und ich habe ein wenig ihre Neugier geweckt, was das wohl für ein Ding ist.
So sitzen wir noch eine Weile zusammen, reden über die gemeinsame Zeit, über die Pläne für die nächsten Tage, ich spiele etwas auf der Handpan, reiche sie anschließend in der Runde weiter, damit alle mal draufklopfen können und dann trennen sich langsam unsere Wege.
Eine tolle Zeit auf der Tierberglihütte mit ganz lieben Menschen geht zu Ende. Leider hat’s mit dem Flug ins Tal nicht geklappt, aber, wie bei allem, steht die Sicherheit und ein möglichst kleines Risiko an erster Stelle und wenn sich das nicht umsetzen lässt, fliegen wir nicht. Hat sich bisher bewährt. Außerdem führt uns unser weiterer Weg für 2-3 Ruhetage nach Interlaken zur Heidi, wo sich ganz sicher was mit fliegen ausgehen wird. Die Akklimatisierung hat ebenfalls ihren Zweck erfüllt und war soweit ausreichend, denn die sich anschließende Bergtour zum Zinalrothorn hat geklappt. Die Geschichte dazu gibt’s hier unter den Hohen Bergen zu lesen.